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Corona und Menschen mit BehinderungVerhinderte Karrieren

Für Menschen mit Behinderung hat die Coronapandemie die Lage gravierend verschlechtert. Gerade auf dem Arbeitsmarkt kämpfen viele.

Oliver Biermanns Pläne für ein eigenes Unternehmen hat Corona nur verzögert, er bleibt dran Foto: Joschka Moser

„Sie sind so behindert, Sie müssen sich nicht bewerben und so.“ Diesen Spruch hatte eine Sachbearbeiterin des Jobcenters für Oliver Biermann parat, als er sich vor sieben Jahren arbeitslos melden musste. Da hatte der inzwischen 30-jährige Berliner schon eine Menge Diskriminierungserfahrungen hinter sich. Biermann bewegt sich im Rollstuhl fort und kommuniziert über einen Sprachcomputer. Das Jobcenter hatte für ihn nur zwei Angebote: Hartz IV oder Behindertenwerkstatt. „Aber ich will Geld verdienen wie jeder andere auch!“, sagt Biermann. Nun bleibt ihm nur der Sprung in die Selbstständigkeit. Sein Traum: eine eigene Eismanufaktur. Eigentlich sollten die Vorbereitungen längst laufen. Doch dann kam Corona.

Die Auswirkungen der Coronapandemie auf den Arbeitsmarkt sind für Menschen mit Behinderung gravierend. Die Zahl der Arbeitslosen mit Schwerbehinderung liegt aktuell so hoch wie zuletzt vor vier Jahren. Laut einer in dieser Woche veröffentlichten Studie der Aktion Mensch sind 13 Prozent mehr Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos als 2019, in einzelnen Bundesländern sind es sogar rund 19 Prozent.

Internationaler Tag

1992 haben die Vereinten Nationen den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung ausgerufen, er soll jedes Jahr am 3. Dezember weltweit das Bewusstsein für deren Belange und Rechte schärfen. 2006 wurde von der UNO-Generalversammlung die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet, die 2008 in Kraft trat. Die Unterzeichner verpflichten sich, Menschen mit Behinderung den gleichberechtigten Zugang zu allen wesentlichen Lebensbereichen zu ermöglichen. In Deutschland gilt die UN-Behindertenrechtskonvention seit 2009.

Zwar ist der gesamte Arbeitsmarkt von diesem Negativtrend betroffen, die Folgen der Coronapandemie dürften für Arbeitslose mit Schwerbehinderung aber deutlich länger andauern. „Haben Menschen mit Behinderung ihren Arbeitsplatz erst einmal verloren, finden sie sehr viel schwerer in den ersten Arbeitsmarkt zurück als Menschen ohne Behinderung“, erklärt Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch.

Aber auch vor der Pandemie war die Situation längst nicht so rosig, wie es zunächst scheint. Ende 2019 lag die Arbeitslosenquote mit 10,9 Prozent immer noch deutlich über der von Menschen ohne Behinderung (5 Prozent). Außerdem mahnt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in einem anlässlich des Internationalen Tags für Menschen mit Behinderung veröffentlichten Positionspapiers: Das Armutsrisiko für Menschen mit Behinderung steigt – trotz der positiven Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt, die es vor der Pandemie gab. Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist das Armutsrisiko seit 2005 um fast 50 Prozent gestiegen, nahezu jeder Fünfte ist nach einer Auswertung des Mikrozensus von 2017 von Armut betroffen, insgesamt 2,5 Millionen Menschen. In der restlichen Bevölkerung blieb das Armutsrisiko in diesen Jahren gleich. „Grund für das gestiegene Armutsrisiko ist die Deregulierung des Arbeitsmarkts seit 2005“, sagt DGB-Vorsitzende Anja Piel. Im stetig gewachsenen Niedriglohnsektor führten Minijobs gerade für Menschen mit Erwerbsminderung zu Mini-Löhnen und Armut.“

Körperlich überfordert, geistig unterfordert

Für Oliver Biermann begann „die Abwärtsspirale“ seiner beruflichen Laufbahn schon in der gymnasialen Oberstufe. Die zehnte Klasse durfte er noch aufteilen und binnen zwei Jahren absolvieren. Das Resultat: Ein guter mittlerer Schulabschluss und die Empfehlung fürs Abitur. Aber in der 11. Klasse blieben ihm ausreichende Nachteilsausgleiche verwehrt. Die Arbeitsagentur hielt ihn, der gerade am Abi­tur vorbeischrammte, nur für eine Ausbildung geeignet: Bürokraft. „Das war eine Ausbildung für Menschen mit Lernbehinderung“, sagt Biermann. Körperlich war er überfordert, geistig unterfordert. Es folgten sieben Jahre Arbeitslosigkeit, Hartz IV. Nicht arbeiten zu können, keine Aufgabe zu haben, das bedeute Langeweile und Vereinsamung, sagt Biermann.

Foto: infotext

Die bisherige Bildungs- und Erwerbsbiografie Biermanns macht deutlich, was auch Sozialverbände und Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderung immer wieder betonen: In allen Stationen von Schule über Ausbildung bis Job gibt es Mängel. Von einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, wie ihn die seit fast 12 Jahren geltende UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, ist Deutschland – auch ohne Pandemie – noch weit entfernt.

Der DGB fordert nun arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherte Beschäftigung, einen Mehrbedarf bei Behinderung in Hartz IV und eine bessere Betreuung durch die Jobcenter. Noch vor der anstehenden Bundestagswahl müssten die Parteien klären, wie sie die schwerwiegenden Probleme lösen wollen, so Vorsitzende Anja Piel.

Oliver Biermann gestaltet sein Lebensumfeld seit drei Jahren dank selbst ausgewählter Assistenten selbstbestimmt. Auch beruflich scheint nun wieder viel mehr möglich. Seit zwei Jahren tüftelt Biermann an seiner Idee: Die eigene Manufaktur soll Eis aus Schafsmilch für kleine Bioläden herstellen, mit Rohstoffen aus der Region. Das Arbeitsamt gab ihm einen Gutschein für einen Gründerberater, zuletzt sollte eine Crowdfun­ding-­­Kam­pag­ne starten. Dass nun Corona alles verzögert? „Ich habe so lange gewartet, dann macht das bisschen auch nichts mehr aus.“

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2 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Es gibt speziell für Langzeitarbeitslose eine gesetzliche Regelung, die Behinderte im Vergleich zu Nichtbehinderten deutlich diskriminiert, darauf wollte ich hier einmal hinweisen. Erscheint unglaublich, und ist wohl nicht wirklich beabsichtigt worden, sondern auf mangelnde Sorgfalt im Gesetzgebungsverfahren zurückzuführen, aber andererseits für Betroffene sehr real, und wird es auch dann noch sein, wenn die Coronazeit endlich endlich einmal durchgestanden sein wird.

    Also: Nach §16 i SGB II können Langzeitarbeitslose durch die Agentur für Arbeit/das Jobcenter nach fünf Jahren Bezug von ALGII (das bekannte Hartz IV) durch einen sehr großzügigen Lohnzuschuss an einen neuen Arbeitgeber gefördert werden, nämlich maximal für einen Zeitraum von 5 Jahren mit Lohnzuschüssen pro Jahr von 100/100/9 0/80/70 %. Der Arbeitgeber kann also im Schnitt bis zu 88% des Lohns ersetzt bekommen, wenn er einen solchen Langzeitarbeitslosen einstellt. Das ist eine Menge, erscheint aber, wenn man die Realität kennt, so wie in dem Artikel über Herrn Biermann beschrieben, angesichts der Schwierigkeiten für Langzeitarbeitslose, einen Job zu finden, leider nur zu angemessen.







    Der Punkt ist nun, dass das alles nur dann gilt, wenn der Langzeitarbeitslose nicht behindert ist. Ist er behindert, und ist dieser Fakt der Arbeitsverwaltung bekannt, ist für solche Fördermaßnahmen nicht mehr die Arbeitsverwaltung sondern die Deutsche Rentenversicherung DRV zuständig. Die DRV aber fördert nicht nach §16 i SGBII sondern nach § 50 SGB IX. Dort beläuft sich die maximale Förderhöhe nur auf durchschnittlich 30% Lohnkostenzuschuss, und das reicht nicht, um die tiefsitzende Antipathie - jenseits allem öffentlichen sozialromantischem Geschwafel - von Arbeitgebern gegenüber Langzeitarbeitslosen zu überwinden, erst recht nicht, wenn es sich um Behinderte handelt und wegen Corona sowieso karge Zeiten angebrochen sind.

    Aber auf jeden Fall viel Glück für Herrn Biermann mit seiner Eismanufaktur!

  • Ich wünsche Herrn Biermann alles Gute für seine Zukunftspläne!