Corona in Wuhan: Normal war anders
Über zwei Monate war Wuhan von der Außenwelt abgeschottet. Nun öffnet sich die Stadt wieder – zumindest schrittweise.
Als Timo Balz nach fast zwei Monaten die Straße vor seiner Wohnsiedlung wieder betritt, zückt der 45-jährige Schwabe sein Smartphone und verschickt euphorisch Selfies an seine Freunde. Sein erstes Ziel in Freiheit war der nächstgelegenen Supermarkt, und dort direkt das Süßigkeitenregal: „Ich habe Unmengen Chips und Schokoriegel geholt“, erzählt der Professor für Fernerkundung an der Universität Wuhan.
Die letzten Wochen hat die vierköpfige Familie ausschließlich in ihrem Apartment verbracht; das Nachbarschaftskomitee hat Lebensmittel vor die Tür geliefert. Für Gemüse, Reis, ja auch Fleisch war gesorgt. Doch die erste Tüte Paprika-Chips, nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, werden die zwei Kinder von Balz wohl nicht so schnell wieder vergessen.
Mit offiziell mehr als 2.500 Virustoten fallen rund drei Viertel aller landesweiten Covid-19-Opfer auf die zentralchinesische Stadt. In Wuhan wurde das Virus als erstes entdeckt; rigoros wurde die Stadt später abgeriegelt. Hätte Wuhan eine Stadtmauer, die Stadttore wären am 23. Januar verschlossen worden. Bis jetzt. Nun aber dürfen einige Bewohner die Stadtgrenze wieder übertreten.
China probiert sich dieser Tage an einem Experiment, das die internationale Staatengemeinschaft mit ganz besonderem Interesse verfolgt: Kann das Virus-Epizentrum, in dem Covid-19 über Monate unkontrolliert gewütet hat, den Weg zurück in die Normalität schaffen? Wenn man davon ausgeht, dass der Virusausbruch zeitversetzt an verschiedenen Orten ähnliche Entwicklungsstufen durchmacht, dann ist Wuhan dem Rest der Welt um einige Wochen voraus.
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Ein Rückblick: Auf der Höhe der Epidemie gelangten tragische Bilder durch die chinesische Zensur an die Öffentlichkeit. Etwa von hoffnungslos überfüllten Spitälern, die offensichtlich infizierte Personen abweisen mussten. Oder von Leichensäcken, die in den Warteräumen der Kliniken gelagert wurden. Und von Krematorien, deren Schornsteine rund um die Uhr Rauch ausstießen.
„In diesen wenigen Tagen scheinen die Verstorbenen immer näher zu kommen. Der Cousin eines Nachbarn ist gestorben, der junge Bruder einer Bekannten ebenfalls. Der Freund von einem Vater starb, seine Mutter und Ehefrau auch. Und schließlich starb er selbst“, schrieb die Schriftstellerin Wang Fang aus Wuhan in einem öffentlichen Tagebuch. Millionen Leser folgten auf ihren Smartphones den anekdotischen Aufzeichnungen der Chinesin, die auch das Fehlverhalten der Lokalregierung zu Beginn des Virusausbruchs offen anprangerte.
Selbst strenge Parteikader wie Xu Xijin, der Chefredakteur der staatlichen „Global Times“, folgten der kritischen Schriftstellerin. Auf seinem Wechat-Account verteidigte er sie: Wang Fangs Tagebucheinträge würden „die offenen Wunden unserer kollektiven Psyche offenlegen“ und seien zu tolerieren, schrieb er. Dennoch haben die Zensoren die meisten Einträge nur wenige Stunden nach ihrer Publikation gelöscht.
Systematischer Hausarrest
Doch abseits der Vertuschungspolitik und Inkompetenz der Lokalbehörden wurde Wuhan schlussendlich auch zum Symbol für den erfolgreichen Kampf Chinas gegen das Virus: Mit systematischem Hausarrest, einer Massenmobilisierung von medizinischem Personal und der strikten Isolierung aller Infizierten hat die Stadt es geschafft, die außer Kontrolle geratene Epidemie wieder einzudämmen. Zumindest, wenn man der massiv abgeflachten Kurve an Neuinfektionen folgt. Im ganzen Land gibt es demnach nur noch etwas über 1.100 Personen, die das Virus in sich tragen. In der Provinz Hubei inklusive dessen Hauptstadt Wuhan sollen es derzeit noch rund 350 aktive Fälle sein.
Die offiziellen Zahlen scheinen jedoch nur ein grober Gradmesser zu sein. Schließlich haben die Behörden ihre Kriterien für die offizielle Zählweise im Laufe der Epidemie bislang sechsmal geändert. Erst am 1. April hat China die sogenannten asymptomatischen Fälle inkludiert; stille Virusträger, die keine Symptome zeigen, aber laut der, von der South China Morning Post publizierten internen Regierungspapieren rund ein Drittel aller Infizierten ausmachen.
Seither haben die Behörden Wuhans fast 200 solcher asymptomatischen Fällen gemeldet, knapp 700 befinden sich zudem unter ärztlicher Beobachtung. Eine Staatszeitung, die zur Mediengruppe der Parteizeitung „Renmin Ribao“ gehört, hatte zuvor einen Arzt aus Wuhan zitiert, der von bis zu 20.000 asymptomatischen Fällen ausging. Der Artikel wurde jedoch von den Zensoren gelöscht.
Bisher wird in Wuhan die Freiheit nur schrittweise zurück gegeben: Die Metallzäune vor den Wohnsiedlungen der Stadt sind weiterhin aufgebaut, die Bewohner dürfen nur unter den Auflagen des örtlichen Nachbarschaftskomitees auf die Straße. Gleichzeitig haben die Behörden aus Angst vor „stillen Virusträgern“ die täglichen Testraten auf 12.000 erhöht, um asymptomatische Fälle zu erkennen.
Nach dem Prinzip „trial-and-error“ wird derzeit erprobt, ob die neuen Freiheiten für die Bewohner möglicherweise zu einem erneuten Anstieg an Virusinfektionen führen. Jede Lockerung kann von den Lokalbehörden umgehend wieder zurückgenommen werden. Mehrere aktuelle Modellstudien prognostizieren, dass es bis zum August zu einer zweiten Welle an Neuinfektionen kommen könnte, wenn die Einschränkungen in Wuhan aufgehoben werden.
Um den schrittweisen Übergang zur Normalität zu kontrollieren, bekommen die Bewohner über eine Smartphone-App einen farbigen QR-Code zugewiesen. Wer nachweislich 14 Tage ohne Symptome ist, bekommt einen grünen Code und darf sich frei innerhalb der Stadt bewegen. Rasch jedoch ändert sich der QR-Code auf gelb – etwa, wenn man sich zufällig mit einem Infizierten im selben Supermarkt aufgehalten hat. Dann muss man zunächst für mehrere Tage in Heimquarantäne. Smartphone-Nutzer mit rotem Code sind verpflichtet, eine 14-tägige Heimquarantäne unter medizinischer Aufsicht zu absolvieren.
Überwachung im Alltag
Auch Emmanuel Geebelen, 42 Jahre, muss seinen QR-Code scannen, wenn er seine Wohnung in Wuhan verlassen will. Ein Mitglied des Nachbarschaftskomitees, des verlängerten Parteiorgans der Lokalregierung, unterrichtet der gebürtige Genfer zudem darüber, wohin exakt er geht. „Das soll einem bewusst machen, dass man sich genau überlegt, rauszugehen oder nicht“, sagt der Schweizer. Dabei war der gelernte Uhrmacher mit seiner Familie bereits im Restaurant wie auch in einem Massage-Laden. „Die Regierung will schließlich die Wirtschaft ankurbeln. Wir bekommen teilweise Coupons als Anreiz, shoppen zu gehen“, sagt er.
„Teilweise haben wir die Zeit während der Ausgangssperre sogar genossen. Mit zwei Kindern wird einem niemals langweilig“, sagt Geebelen. Allerdings habe seine chinesische Frau, ehemals Leiterin eines Kindergartens, aufgrund der Krise ihre Arbeitsstelle – und damit auch das einzige Einkommen der Familie – verloren. Per Wechat, dem chinesischen Pendant von Whatsapp, hat sie allerdings in der Zwischenzeit den Vertrag für eine neue Stelle im ostchinesischen Hangzhou unterschrieben. Spätestens in einer Woche wird die Familie dann übersiedeln – in eine Wohnung, für die sie bereits eine Kaution bezahlt hat.
Auf den sozialen Netzwerken Chinas werden Fotos des neuen Normalzustands in Wuhan verschickt: Die Einkaufszentren sind mittlerweile geöffnet, jedoch weitgehend leer. Erste Hobby-Angler haben sich bereits am Ufer des Jangtse-Fluss eingefunden. Die Straßen füllen sich allmählich mit Passanten, wenn auch ausschließlich alle Schutzmasken tragen.
Viele Chinesen, das wird dieser Tage deutlich, sorgen sich nach wie vor vor der Virusbedrohung: „Selbst meine Mutter hat Angst, dass ich zurück in meine Heimatprovinz reise. Sie denkt, dass ich das Virus in unser Heimatdorf bringe“, sagt eine 30-jährige Chinesin, die vor acht Jahren in Wuhan geheiratet hat und seither dort lebt. Ursprünglich hatte sie geplant, sobald wie möglich ihre Familie im Süden Chinas zu besuchen. „Wenn sich selbst meine Mutter schon so sorgt, wie werden dann die anderen erst auf mich reagieren?“ Auch sie glaubt, dass die Gefahr wesentlich höher ist, als von den offiziellen Medien behauptet wird.
Sich nach dem Alltag sehnen
Für Timo Balz, dem wohl einzigen Deutschen in der Stadt, der die zwei Evakuierungsflüge der Bundesrepublik abgelehnt und über die gesamte Zeit in Wuhan ausgeharrt hatte, fühlt sich das Leben trotz allem schon fast normal an: Der Lieferdienst kommt wieder zum Pförtnerhäuschen, um das bestellte Essen abzugeben. Die Gärtner stutzen den Rasen im Vorhof. Und von der Straße hört man Menschenlärm.
Die Quarantäne habe ihm, meint Balz, persönlich wenig zugesetzt: Sein Gehalt von der Universität wurde weiter überwiesen, und in der freien Zeit hat der Wissenschaftler unter anderem eine Studie in einem Fachjournal publiziert.
Dennoch wünscht sich der Stuttgarter den Alltag von früher zurück; ohne Ausgangsbeschränkungen und ohne ständig die Körpertemperatur messen zu müssen. Was er als erstes machen würde, wenn die Krise vorüber ist? „Die normalen Dinge: spazieren gehen, ins Büro gehen“, sagt er.
Wahrscheinlich wird es noch Monate dauern, bis es soweit ist. Doch am Freitag haben die parteihörigen Staatsmedien Optimismus verbreitet: Es sei unwahrscheinlich, dass es in Wuhan zu einer zweiten Infektionswelle komme, titelt die Global Times. Die Provinzhauptstadt von Hubei sei vielleicht „die derzeit sicherste Stadt in China“, sagte der Leiter des Shanghaier Covid-19-Expertenteams. Viele Bewohner hätten laut Zhang Wenhong bereits Immunität gegen den Erreger entwickelt. Doch dies sei lediglich eine Vermutung.
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