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Corona im Berchtesgadener LandDahoam in Oberbayern

Das Berchtesgadener Land weist die meisten Corona-Neuinfektionen pro Kopf wöchentlich auf. Nun gelten strenge Regeln.

Berchtesgaden vor dem Lockdown: Auf den Außenterrassen bauen Gastronomen ihre Stühle ab Foto: Leonhard Föger/reuters

Berlin taz | Am Montagnachmittag saßen noch Besucher:innen am Ufer des Königssees und tranken Kaffee in der Herbstsonne. Vorerst zum letzten Mal. Denn seit Dienstag um 14 Uhr beschränkt die neu angeordnete Allgemeinverfügung für das Berchtesgadener Land das Leben kurz vor den Alpen erheblich.

Am Montag war im Landkreis die Sieben-Tage-Inzidenz auf 272,8 Neuinfektionen mit dem Coronavirus pro 100.000 Einwohner:innen angestiegen – die höchste in ganz Deutschland. Inzwischen ist der Wert zwar gesunken – auf 236 –, dennoch bereiten sich die Be­woh­ner:innen auf die neuen Bestimmungen vor. Die gelten vorerst bis zum 2. November.

Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, eine Notbetreuung eingerichtet. Der Besuch von Freizeiteinrichtungen wie Kinos, Bars, Restaurants oder Vereinsheimen ist verboten. Einkaufen ist ebenso erlaubt wie die Fahrt zur Arbeit, Einzelhandel und Dienstleistungsbetriebe wie Friseur:innen bleiben geöffnet. In Innenstädten und besonders belebten Zonen gilt eine Maskenpflicht.

Auch der Besuch in Alten- oder Pflegeheimen ist verboten. Anja Stein-Eichler, Leiterin eines Seniorenwohnheims in Kirchberg, einem Ortsteil der Kurstadt Bad Reichenhall, ist beunruhigt über die aktuelle Entwicklung. „Im März und April hat der Lockdown die Lebensqualität der Bewohner:innen sehr eingeschränkt“, erzählt sie. Über Skype konnten die Se­nio­r:in­nen zwar mit ihren Angehörigen kommunizieren, aber eine dauerhafte Kompensation für physische Kontakte sei das nicht gewesen.

Die Touris müssen nach Hause

Am Dienstag wurden 40 Neuinfektionen gemeldet, aktuell gibt es damit 260 aktive Fälle. Wolfgang Krämer, Leiter des Gesundheitsamts, informierte darüber, dass sich momentan 12 Personen in stationärer Behandlung im Reichenhaller Krankenhaus befänden, wovon zwei auf der Intensivstation beatmet würden.

Wo sonst Tourist:innen über das Wasser schippern, den schroffen Watzmann und das herbstliche Bergpanorama bestaunen, wird sich in den kommenden zwei Wochen kein:e Tourist:in verirren. Am Dienstagv­ormittag mussten hunderte Besucher:innen die Heimreise antreten, informierte die Passauer Neue Presse. Insgesamt wollten etwa 2.500 Personen die Herbstferien im Landkreis verbringen.

In den vergangenen zwei bis drei Wochen seien die Buchungen mit den steigenden Coronazahlen spürbar zurückgegangen, so Ursula Wischgoll von der Berchtesgadener Land Tourismus GmbH (BGLT). „Im Sommer wurde aber selbst das letzte Zimmerchen belegt“, sagt sie der taz. Bis zum Herbst sei das Buchungsverhalten stabil gewesen. Besonders für Tourist:innen aus dem Inland war der Abstecher in die oberbayerischen Alpen attraktiv.

Was der Auslöser der plötzlich steigenden Zahlen ist, bleibt unklar. Spekulationen gibt es um eine Hochzeitsfeier in der Gemeinde Anger vor etwa zehn Tagen. Dort sollen sich zahlreiche Menschen angesteckt haben. Auch über eine Party in einer Shishabar in Freilassing, bei der möglicherweise zu eng gefeiert wurde, wird in der Lokalpresse spekuliert.

„Vielleicht haben auch die Grenz­gänger:innen aus Österreich zu einer verstärkten Ausbreitung beigetragen. Wir wissen es nicht“, betont hingegen der Hammerauer Bürger Cengiz Öztunk. Wen man fragt, die Antworten sind unterschiedlich. Wischgoll von der BGLT will sich darauf nicht einlassen. „Die Situation ist sehr komplex, es macht keinen Sinn, jemanden zu beschuldigen“, sagt sie.

Trotz der groben Einschränkungen versuchen die Menschen gelassen zu bleiben. „Die Stimmung ist entspannt, wir sind darauf eingestellt“, sagt etwa eine 78-jährige Rentnerin aus Bayerisch Gmain. Sie will sich nicht beunruhigen lassen.

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2 Kommentare

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  • "Spekulationen gibt es um eine Hochzeitsfeier in der Gemeinde Anger vor etwa zehn Tagen. Dort sollen sich zahlreiche Menschen angesteckt haben. Auch über eine Party in einer Shishabar in Freilassing, bei der möglicherweise zu eng gefeiert wurde, wird in der Lokalpresse spekuliert."

    Beides kann man aufgrund der bekannten Inkubationszeit ausschließen. Es muss ein Ereignis vor mindestens 14 und höchstens 30 Tagen gewesen sein, oder ein Ereignis mit mindestens 1.000 Teilnehmer*innen vor 7-14 Tagen (das es meines Wissens nicht gab, da es anmeldungspflichtig gewesen wäre und somit den Behörden bekannt).



    Oder eben kein einzelnes Ereignis, sondern 2-3 Wochen andauerndes unkoordiniertes aber zielgerichtetes Handeln der lokalen Covidiotenpopulation im Alltag.

    • @Ajuga:

      Ergänzung: nach seinen Informationen, die Landrat Kern auf der Pressekonferenz wiedergab, ist es die letztgenannte Möglichkeit: eine "diffuse" Ausbreitung kann nur entstehen, wenn zahlreiche Personen unabängig voneinander Dinge tun, die aufs gleiche Ergebnis (Infektion im familiären oder beruflichen Umfeld bzw Freundes- und Bekanntenkreis) herauslaufen.

      Wenn es irgendwelche klar erkennbaren Cluster oder Hotspots zum fraglichen Zeitpunkt gegeben hätte, wüsste Kern das wohl.

      Hier liegt übrigens eine zu wenig berücksichtigte Gefahr: ein "konventionelles" Superspreading - ein einzelnes Ereignis mit R im Bereich von mehreren Dutzend - ist meist recht gut umgrenzbar und noch einigermaßen beherrschbar. Was wir in Berchtesgaden - oder auch in Delmenhorst - haben, ist eine Art "Meta-Superspreading", eine langsame und harmlos wirkende Ausbreitung, bis zufällig mehrere Ausbreitungsereignissen mit R-Wert im Bereich 5-10 zeitgleich stattfinden.



      Das ist übrigens die kritische Schwachstelle der ansonsten ausgezeichneten "Corona-Ampel" in Berlin: die Contact-Tracing-Quote müsste berücksichtigt werden, denn wenn die nachhaltig sinkt, kann jeder unglückliche Zufall zu einem unkontrollierbaren Ausbruch führen - egal wie gut die sonstigen Kennzahlen sind, denn die kippen erst wenn der Keks schon weitgehend gegessen ist - die Belegung der Intensivstationen bildet das Infektionsgeschehen von vor 2-3 Wochen ab, die Neudiagnosen immer noch mit 1-2 Wochen Verzögerung. Und rund 80% der Übertragungen finden in der präsymptomatischen Phase statt; das macht dieses Virus so gefährlich.



      Die Fähigkeit oder Unfähigkeit, Infektionsketten rückzuverfolgen, ist also ein brauchbarer Frühwarnindikator für eine riskant hohe Dunkelziffer, aus der Ausbrüche wie in Bergamo oder NYC entstehen können.