Corona hält die Welt im Griff: Die Angst vor der zweiten Welle
Einzelne Länder haben den Lockdown gelockert und bereuen es. In anderen breitet sich das Virus weiter aus. Auch Brasiliens Präsident ist infiziert.
Alle vorliegenden Zahlen sind unter dem Vorbehalt hoher Dunkelziffern zu genießen, aber klar ist: Während sich westeuropäische Länder nach dem Abklingen der „ersten Welle“ Gedanken um die Vorsorge gegen eine „zweite Welle“ machen, schlägt andernorts die „erste Welle“ gerade erst richtig zu. Das Neuinfektionsgeschehen der aus China verbreiteten Pandemie verlagerte sich von Westeuropa im Frühjahr zunächst in die USA, nach Indien und Russland und danach vor allem nach Lateinamerika. In Südafrika und den arabischen Golfstaaten nehmen Infektions- und Todeszahlen neuerdings beängstigend zu, in anderen afrikanischen und asiatischen Staaten gibt es derweil schon wieder Entwarnung. Es gibt kein einheitliches Bild.
Am Montag öffnete in Paris endlich wieder der Louvre, mit einem Limit von unter 10.000 Besuchern pro Tag – zugleich öffnete in Delhi ein Corona-Notfallkrankenhaus in einer Gebetshalle mit 10.000 Betten, teils aus Pappe. Kasachstan verhängte als erstes Land der Welt einen zweiten landesweiten Lockdown – Kenia kündigte die Wiederaufnahme des nationalen und internationalen Flugverkehrs ab 15. Juli beziehungsweise 1. August an.
In Bolivien kam der Gesundheitsminister mit Covid-19-Komplikationen ins Krankenhaus. In Ghana begab sich der Präsident in Quarantäne. Der australische Bundesstaat Victoria mit der Hauptstadt Melbourne wurde erneut vom Rest des Landes isoliert, Kosovos Hauptstadt Prishtina erneut unter Ausgangssperre gestellt.
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der Covid-19 als „leichte Grippe“ bezeichnet hat, wurde am Dienstag positiv auf das Coronavirus getestet. Einen Monat zuvor war Burundis Präsident Pierre Nkurunziza, der Schutzmaßnahmen in seinem Land abgelehnt hatte, als erster Staatschef der Welt an Covid-19 gestorben; sein Nachfolger vollzieht nun einen Kurswechsel.
Neuinfektionen brechen Rekorde
In reichen Industrienationen, sagen Kritiker, sind die sommerlichen Lockerungsmaßnahmen eher von der Angst vor dem Wirtschaftskollaps getrieben als von virologischer Weitsicht. Besonders deutlich ist das in den USA, wo die Infektionszahlen in dem Maße wieder in die Höhe schnellen, wie die Arbeitslosenzahlen wieder sinken. Anders als zu Beginn der Pandemie, als vor allem Alte und Pflegebedürftige starben, sind jetzt in den USA vor allem junge Menschen im arbeitsfähigen Alter betroffen, weswegen zwar die Neuinfektionen Rekorde brechen, die Todeszahlen aber weiter sinken.
In den meisten ärmeren Entwicklungsländern stehen demgegenüber gesundheitliche Erwägungen im Vordergrund, obwohl die wirtschaftlichen Auswirkungen um ein Vielfaches gravierender sind. Die Vorsorgemaßnahmen gegen die Pandemie stürzen Millionen von Menschen in die Armut – wobei fehlende oder ungeeignete Maßnahmen wie beispielsweise in Brasilien und Indien die Massenverarmung nicht verhindern, sondern ihr ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinzufügen.
55 Prozent der Weltbevölkerung, so das Hilfswerk „World Vision“ in einem Dienstag veröffentlichten Bericht, haben keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen. Lockdowns bedeuten für sie direkte massive Einkommensausfälle, aufgefangen durch Verschuldung, Verkauf von Besitz, Konsumverzicht sowie Mehrarbeit durch Kinder. Eine UN-Arbeitsgruppe hat ermittelt, dass in armen Haushalten Bangladeschs das durchschnittliche Einkommen seit Einführung von Corona-Bekämpfungsmaßnahmen Ende März auf weniger als ein Viertel des ohnehin geringen vorherigen Niveaus gefallen ist.
Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) rechnet mit einer Verdopplung der Zahl der auf Nahrungsmittelhilfe angewiesenen Menschen weltweit auf 265 Millionen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef bilanziert die Zahl der Schulkinder, die wegen coronabedingter Unterrichtsausfälle keine Schulspeisung mehr erhalten, auf 368,5 Millionen. Die Fachzeitschrift Lancet warnt vor 1,15 Millionen zusätzlichen Hungertoten unter Kindern dieses Jahr. „Sicher ist“, warnt die Deutsche Welthungerhilfe in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht, „dass auf die Gesundheitskrise eine Ernährungskrise folgt.“
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