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Corona-Krise und GroßstädteWie geht's, Nachbarn?

Nach zwei Wochen Kontaktsperre in Berlin: Kann man sich an den Corona-Ausnahmezustand gewöhnen? Momentaufnahmen aus vier Metropolen.

Auseinander! Eine Polizeistreife kontrolliert in Berlin, ob die Menschen sich corona-korrekt erholen Foto: picture alliance/Christophe Gateau/dpa

Hunde mit Harndrang

Vierbeiner hier in Rom könnten jetzt alle den gleichen Namen tragen: „Triftig“. Hunden nämlich billigt die Regierung zu, sie stellten einen „triftigen Grund“ dar, um ihre Besitzer_innen mitzunehmen auf einen Spaziergang durchs Wohnviertel. Und so sieht man all die Herrchen und Frauchen, wie sie mit ihrem Bello ohne Unterlass dem Hoftor unseres Wohnblocks zustreben. Die Tiere, so scheint es, haben jetzt einen Harndrang, wie sie ihn vor der Coronakrise nie verspürten.

In Rom ist der Frühling mit Macht ausgebrochen, strahlender Sonnenschein, laue 22 Grad. Doch statt deutschen „Ausgangsbeschränkungen“ herrscht Ausgangssperre. Wer immer im Pkw, auf dem Fahrrad oder auch nur zu Fuß unterwegs ist, riskiert Kontrollen, muss die Selbstbescheinigung vorweisen, laut der er aus einem triftigen Grund ­unterwegs ist. So wird das Anstehen vorm Supermarkt zum einzig verbliebenen Freizeitspaß.

Palmsonntag jedenfalls ist ausgefallen. Das übliche Bild an diesem Tag – an jeder Ecke Menschen, die nach dem Besuch der Messe mit den Olivenzweigen in der Hand an Jesu’ Einzug in Jerusalem erinnern – wurde 2020 nicht geliefert. Stattdessen verwaiste Straßen, auf denen vor allem Polizeiautos unterwegs sind. Genauso wird auch Ostern ausfallen, die üppigen Mittagessen mit Oma und Opa, mit den Geschwistern, den Nichten und Neffen, genauso wie die traditionelle Landpartie am Ostermontag.

Anders als Hunde stellen Kinder übrigens keinen „triftigen Grund“ dar, spazieren zu gehen. Bloß zum Supermarkt oder zur Apotheke darf man sie mitnehmen, wenn keiner zu Hause auf sie aufpassen kann. Und so tun die Kleinen auf einmal das, was bei uns im Wohnblock immer verboten war: Sie spielen im Hof. Ein Papa hat seine Fünfjährige in ein Tretauto gesetzt, eine Mama führt ihre etwas größere Tochter an der Hand, während sie auf Inline-Skatern die ersten ungelenken Schritte tut.

Es ist die eine Stunde Freigang, die einem im Knast zusteht. Viele Fenster, viele Balkontüren stehen bei dem schönen Wetter offen. Doch ganz anders als zu normalen Zeiten dringt aus den Wohnungen kaum je das Gebrüll eines ordentlichen Familienkrachs. Michael Braun, Rom

Der Trick mit dem Einkaufsbeutel

Madrid ist wie ausgestorben. Bis auf Supermärkte und kleine Lebensmittelgeschäfte ist alles geschlossen. Polizei patrouilliert durch die fast menschenleeren Straßen. Wer das Haus verlässt und nicht einkaufen geht oder den Hund Gassi führt oder gar in Begleitung angetroffen wird, muss mit einem Bußgeld rechnen.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die versuchen, die Ausgangssperre zu umgehen. Der einfachste Trick: ein zusammengefalteter Einkaufsbeutel unter dem Arm oder ein Rundgang mit dem Hund des Nachbarn. Da hilft es ungemein, dass Madrids Stadtpolizei, anders als noch vor Jahren, keine Nahbereichsbeamten mehr hat, die ihre Nachbarn kennen.

Der Verkehr hat um 87 Prozent abgenommen. Aber es gibt noch Menschen, die glauben, sie könnten das Auto nehmen, um in ihren Zweitwohnsitz zu fahren. Deshalb hat die Verkehrspolizei ihre Kontrollen zu Beginn der Osterwoche besonders verstärkt. Vor allem mitten in der Nacht nimmt der Verkehr zu.

In den ersten drei Wochen nach dem Inkrafttreten der Verordnung am 14. März wurden 11.816 Bußgeldbescheide ausgestellt. Ein Stadtteil sticht bei den Verstößen ganz besonders hervor: Puente de Vallecas. Es ist einer der ärmsten Innenstadtbezirke. Die Wohnungen sind klein. Was in normalen Zeiten schon schwierig auszuhalten ist, wird durch die Ausgangssperre unerträglich. Das Leben in Quarantäne ist auch eine Klassenfrage. Reiner Wandler, Madrid

Die Tauben turteln

Die Stille wird nur gelegentlich von der Sirene einer Ambulanz durchbrochen, die wahrscheinlich einen Patienten mit Covid-19-Verdacht in ein Krankenhaus transportiert. In den meisten Quartieren ist diese Stille fast noch unheimlicher als die vom Verkehr und Menschenmengen leergefegten Straßen.

Die wenigen Fußgänger halten sich auf Distanz zu den anderen, gehen schweigend und schneller als sonst, und einige tragen eine Maske vorm Mund. Man fragt sich, wo sie diese Mangelware wohl beschafft haben. Besonders vereinsamt sehen Orte aus, wo sich wie rund um den Eiffel-Turm oder auf den Champs-Elysées normalerweise die Touristen drängen. Dort turteln jetzt ungestört die Tauben in der Frühlingssonne.

Die Regeln sind streng: Grundsätzlich herrscht ein Ausgehverbot für alle, das von der Polizei kontrolliert wird, bei Zuwiderhandlung drohen Geldstrafen. Wer mit den reduziert verkehrenden Bussen und den Metro-Linien noch zur Arbeit gehen muss oder darf, braucht eine schriftliche Bescheinigung des Arbeitgebers. Erlaubt sind pro Tag maximal eine Stunde Marschieren oder Joggen im Umkreis von einem Kilometer und zwingend nötige Einkäufe im Wohnquartier.

Jedes Mal muss dazu ein Formular mit Datum- und Zeitangabe ausgefüllt werden, das man online herunterladen und ausgefüllt bei sich tragen muss. Vor den Supermärkten, wo die Kassiererin meist hinter einer Plastikschutzwand arbeitet, bilden sich Warteschlangen, in denen die Leute diszipliniert den nötigen Abstand wahren.

Der Sonnenschein am Wochenende hat jedoch vor allem die Familien, denen es in der Wohnung nach fast drei Wochen Mit- und Aufeinander eng wurde, nach draußen gelockt. Die bisher respektierten Restriktionen wurden plötzlich locker gehandhabt. Für die, die es sehr ernst nehmen, ist das ärgerlich. Wahrscheinlich hat nur das massive Polizeiaufgebot mit Kontrollschranken an den Ausfahrtstraßen verhindert, dass begüterte Hauptstadtbewohner scharenweise in ihre Ferienhäuser aufbrechen.

Wenn um 20 Uhr die Nachbarn an den Fenstern aus Dankbarkeit für das unermüdliche Pflegepersonal applaudieren, wird man aber sehen, wo in jetzt unbeleuchteten Wohnungen Leute verschwunden sind. Rudolf Balmer, Paris

Nur nicht wahnsinnig werden

In Warschau lockt der Frühling. An den Bäumen sprießt das erste frische Grün, die Forsythien leuchten gelb, und die warme Aprilsonne lassen einen die Atemmaske vom Kopf reißen. Doch Passanten werfen sofort missbilligende Blicke, also zieht man sie wieder über Mund und Nase. Jeder kann die Zahlen auswendig hersagen. Am Montag um 10 Uhr gibt es in Polen über 4.200 bestätigte Covid19-Kranke und 98 Tote. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher, da die Labors in Polen nur rund 3.500 Tests auswerten können.

Überall auf den Straßen patrouillieren auch Polizisten, lassen sich den Ausweis zeigen, fragen nach dem Woher und Wohin und mahnen, auf dem schnellsten Wege nach Hause zurückzugehen. Wer keinen triftigen Grund für seinen „Spaziergang“ angeben kann – erlaubt ist nur noch der Weg zur Arbeit, zum Arzt oder zur Apotheke, sowie zum Einkaufen – kann gleich sein Portemonnaie zücken. Die Geldbußen sind sofort zu bezahlen. Wer sich weigert, muss sich auf eine Gerichtsverfahren einstellen.

Parks sind geschlossen, die Weichsel-Boulevards und –Strände auch, sogar die Stadtwälder. Nur die Jäger haben noch Zutritt, und so hören die Warschauer kaum noch ein fröhliches Tirilieren der zurückgekehrten Zugvögel, sondern hinter rotweißen Plastikbändern nur das Knallen der Flinten im Wald.

Restaurants, Cafés, Läden, Kinos und Theater, Spielplätze und Trimmpfade – alles ist geschlossen. Das Wort rekreacja ist in aller Munde. Premier und Minister verdammen die „Erholung“ in Zeiten der Corona-Pandemie, während immer mehr Warschauer aufbegehren: ohne rekreacja an der frischen Luft würde man zwariowac – „wahnsinnig werden“

Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre leiden besonders unter der Kontaktsperre. Ohne ihre Eltern dürfen sie die Wohnung nicht mehr verlassen. Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Die Online-Aufgaben überfordern viele. Eltern sind genervt, auch weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. So kommt es zu immer mehr Streit und häuslicher Gewalt.

Plötzlich zeigt die von vielen Polen mit Wählerstimmen belohnte Kindergeldpolitik der nationalpopulistischen Recht und Gerechtigkeit (PiS) ihr hässliches Gesicht: Zwar erhalten Eltern für jedes Kind monatlich 500 Zloty (rund 115 Euro) ausgezahlt, doch inzwischen gibt es kaum noch soziale Institutionen oder Hilfsorganisationen, an die sie sich bei Problemen wenden könnten.

Vielen Straßenkindern in Warschau-Praga, einem sozialen Brennpunkt, droht nun die Einweisung in eine „Besserungsanstalt“. Denn die durch Projektgelder und Privatspenden finanzierten Streetworker, die sich normalerweise um die Kinder kümmern und sie von der Straße holen, dürfen das zur Zeit nicht tun. Von der staatlichen „Besserungsanstalt“ aber führt der Weg meist direkt in den Knast. Hier rächt sich, dass Polens Regierung den sozialen Wohnungsbau in den letzten Jahren völlig vernachlässigt hat. Sechsköpfige Familien in einer Zwei-Zimmer-Wohnung sind in Praga keine Seltenheit.

Das Krankenhaus, das sich vor allem um Covid19- Kranke kümmern soll, entstand übrigens nicht im armen Praga, sondern im mondänen Regierungsviertel Mokotow. Gabriele Lesser, Warschau

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