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Corona-Impfungen für KinderWirtschaft versus Wissenschaft

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Berlins Regierungschef und die Wirtschaftssenatorin fordern eine Impfempfehlung für Kinder. So diskreditieren sie Wissenschaft und Forschung.

In Rumänien, wo Ramona Pop geboren ist, werden 12- bis 15-Jährige gegen Corona geimpft Foto: dpa

E ine Lehre aus der Coronapandemie ist, dass Politik und Wissenschaft voneinander lernen und profitieren können, wenn sie sich und ihre jeweilige Arbeitsweise respektieren. Selten hatten For­sche­r*in­nen eine so hohe Bedeutung für die öffentliche Debatte; selten hat Politik so demütig Unwissenheit eingestanden.

Auf das Verhältnis zwischen beiden angesprochen, hatte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) im vergangenen Sommer der taz gesagt: „Wo wir ohne diese Experten und medizinische Einrichtungen wie der Charité wären, sieht man in anderen Ländern.“ Und weiter: Die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen „gehen in die Öffentlichkeit, sie erklären einen Weg und sie unterstützen damit die Politik“.

Allerdings – so muss man mit Blick auf die jüngsten Äußerungen von Müller und seiner Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) wohl sagen – gilt das nur, wenn die Wissenschaft auch genau das unterstützt, was die Politik will.

Konkret geht es um die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) zur Impfung von Kindern und Jugendlichen gegen Corona. Bisher hat die Kommission diese für 12- bis 17-Jährige nicht generell empfohlen, sondern nur für junge Menschen mit Vorerkrankungen. Die mit hochrangigen Wis­sen­schaft­le­r*in­nen besetzte Stiko soll, so heißt es beim zuständigen Robert Koch-Institut, bei ihrer Empfehlung nicht nur den Nutzen für das ge­impfte Indivi­duum, sondern für die ge­samte Be­völke­rung berücksichtigen; sie orientiere sich an den Kriterien der evi­denz­basierten Me­dizin. Sie hat eine Abwägung getroffen, die übrigens auch von vielen Kin­der­ärz­t*in­nen als angemessen eingeschätzt wird.

Sorge vor einem erneuten Lockdown

Müller und Pop, die angesichts von steigenden Infektionszahlen in einigen europäischen Ländern offenbar die Sorge vor einem baldigen erneuten Lockdown umtreibt, passt diese Empfehlung nicht mehr. „Die Stiko muss überdenken, ob sie nicht aufgrund der Delta-Variante eine Impfempfehlung für Jugendliche ausspricht“, forderte Pop am Dienstag. Dabei ist sie im Senat gar nicht für Gesundheit zuständig; das ist Dilek Kalayci, die sich bisher nicht dazu geäußert hat. Erneut entsteht in der Pandemie so der Eindruck, dass es weniger um die wirklichen, in diesem Fall sehr individuellen Belange der Kinder und Jugendlichen geht, sondern um die Wirtschaft.

Bereits am Sonntag hat Müller, auch er kein Mediziner, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aufgefordert zu klären, „ob man nicht anhand einer größeren Datenbasis eine gute Empfehlung auch für Kinder aussprechen kann und das Impfen wirklich vorantreiben kann“. So wird politischer Druck ausgeübt: Dabei weiß Müller, der auch Wissenschaftssenator ist, dass Ergebnisse die Folge von Forschung sind und nicht umgekehrt. Mit ihren Forderungen schwächen Müller und Pop die Wissenschaft, die sie sonst so gerne als Aushängeschild Berlins vor sich hertragen und von der die Politik angeblich so profitiert.

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Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
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14 Kommentare

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  • > Mit ihren Forderungen schwächen Müller und Pop die Wissenschaft, die sie sonst so gerne als Aushängeschild Berlins vor sich hertragen und von der die Politik angeblich so profitiert.

    Das finde ich nicht so klar. Die Stiko hat gesagt, dass sie keine hinreichenden sicheren wissenschaftlichen Ergebnisse sieht, die eine Impfung rechtfertigen.

    Aber zum Einen, das war so ähnlich bei der Diskussion, ob es nennenswerte Corona-Infektionen an Schulen gab. Viele Politiker haben behauptet, "Schulen seien keine Treiber der Pandemie", obwohl es bereits zahlreiche davon abweichende Beobachtungen gab.

    Zweitens gibt es, genau wie damals, zahlreiche Beobachtungen, dass es schwere Erkrankungen und Langzeitfolgen bei Kindern gibt. Die Stiko mag das anders beurteilen als andere Stellen, und darauf verweisen dass die Forschung nicht abgeschlossen ist, aber die Beobachtungen gibt es.

    Drittens gibt es namhafte Experten wie Drosten, die sich eher für eine Impfung von Kindern aussprechen. Und außerdem Länder, die diese bereits praktizieren.

    Und viertens verbreiten auch sonst Presse und Politik eine Vielzahl von Stellungnahmen und Meinungen, die man als Versuch sehen könnte Einfluss zu nehmen, wie "dass es nach dem Sommer keinen Distanzunterricht mehr geben soll". Und diese sind viel weniger auf Fakten gegründet als die Stellungnahmen von Christian Drosten und Karl Lauterbach.

  • „selten hat Politik so demütig Unwissenheit eingestanden„

    Selten so gelacht

  • Der 2. Sommer - die 2. Pause des Virus - wird gerade wieder nutzlos vertändelt.

    Wer die hohe Inzidenz von 100 als Maßstab setzt, nimmt die Folgen in Kauf: Schulschließung, Isolierung der Alten, Verarmung der prekär Beschäftigten, als "Homeoffice" schöngeredete Höhlenexistenz...

    Mit der hohen Inzidenz von 100 macht sich die Politik selber handlungsunfähig. ("Freiheitlich": Wer ein geräumiges Landhaus hat und sich seine Rente von den Kindern anderer finanzieren lässt...)

    Wird die Virenpause im Sommer als Chance zum Umdenken und Umsteuern genutzt?

    • @Rosmarin:

      Zumal wir sehr genau wissen, dass die Kontaktverfolgung der Gesundheitsämter bei hohen Inzidenzen nicht mehr funktioniert.

      Was will die Politik eigentlich? Eine Durchseuchung der Jüngeren und Kinder da denen Corona vermeintlich nicht schadet? Mit hunderttausenden von Infektionen?

      Denn wenn man die Infektionszahlen überhaupt begrenzen will, ist es sinnvoll und bei weitem am wenigsten Aufwand und Schaden, das ganz am Anfang eines Anstiegs zu tun. Genauso wie man Brände besser löscht solange sie klein sind.

  • Ja das sind klare wahre Worte. Dass es Schulschließungen auch mit weitgehend nicht geimpften Kindern vermeidbar sind zeigten andere Länder in der Pandemie. Schulen blieben offen, Betriebe wurden geschlossen in Spanien und Frankreich. Homeoffice wurde dafür umso konsequenter umgesetzt und Freizeittreffen von Erwachsenen komplett untersagt. Die Schäden eines Lockdowns sind für Kinder unverhältnismäßig hoch also muss die Kontaktreduzierung in einer neuen Corona Welle über die Erwachsenen erfolgen. Die Stiko hat klar gesagt, dass es eine Impfempfehlung für Kinder geben wird, sobald eine (neue) Variante auch unter Kindern gefährliche bis tödliche Verläufe bedeutet. Solange Kinder fast nie schwer oder gar tödlich erkranken würde es für sie mehr unerwünschte Nebenwirkungen durch die Impfung geben (auch wenn diese ebenfalls sehr selten sind) und das kann und will die Stiko zum Glück nicht verantworten. Da erwachsene Personen aus Familien mit Kindern bis zum Ende der Sommerferien weitgehend geimpft sind (es sei denn sie lehnen die Impfung ab) Lehrer:innen und Erzieher:innen in Kitas und Schulen ebenso verliert auch das Argument dass Kinderimpfungen zum Schutz der Erwachsenen Risikogruppen nötig sei, vollkommen an Glaubwürdigkeit. Bliebe noch die viel zitierte Herdenimmunität. Nach allen Erkenntnissen die es bislang gibt, wird das Virus auch in Geimpften z.B. im Rachen weiter zirkulieren - anders als bei den Masern schützt die Impfung also nicht absolut vor Eigenansteckung und Weitergabe an andere. Das Ziel diejenigen absolut zu schützen die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können wäre also auch mit Kinderimpfung nie erreichbar.

    • @Nina Janovich:

      Schwere Erkrankungen bei Kindern gibt es aber durchaus, auch wenn sie nicht sehr häufig sind. Todesfälle durch Corona sind auch bei Kindern häufiger als durch Grippe (Influenza) - und gegen Grippe werden Kinder geimpft:

      twitter.com/chrisc...6719552516/photo/1

      • @jox:

        Und dazu kommt, das es neben selteneren schweren Erkrankungen auch Long Covid Erkrankungen bei Kindern gibt, die /nicht/ selten sind, und von denen wir nicht mal wissen ob sie irgendwann wieder weg gehen. Und die zahlreiche Organsysteme betreffen und auch neurologische Symptome beinhalten. Das ist vom Risiko her auch bei Kindern überhaupt nicht zu vergleichen mit einer Erkältung.

        Dass das Risiko einer Impfung nicht genau null ist, ist richtig, aber man muss es in Beziehung setzen zu diesen Risiken.

      • @jox:

        Dazu kommt, dass alle, die nicht geimpft sind, fast mit Sicherheit innerhalb von wenigen Monaten eine Corona-Infektion bekommen werden. Auch Kinder. Das ist nicht so wie bei vielen anderen Infektionen, wo der geimpfte Teil der Bevölkerung den nicht geimpften Teil schützt.

        • @jox:

          > Dazu kommt, dass alle, die nicht geimpft sind, fast mit Sicherheit innerhalb von wenigen Monaten eine Corona-Infektion bekommen werden.

          Steile Hypothese. Insbesondere weil es nicht so wahnsinnig schwierig ist, einer Infektion zu entgehen, wenn man in Innenräumen eine gut sitzende FFP2-Maske trägt und ansonsten Risikosituationen meidet.

          Was die Kinder betrifft steht und fällt es damit, ob die Politik es bis zum Herbst schafft, den Schul- und Kitabetrieb durch geeignete Maßnahmen abzusichern. Impfungen für Kinder zu propagieren, die bis Herbst voraussichtlich sowieso nicht zur Verfügung stehen, zählt definitiv nicht dazu

  • Tja. Wissenschaft ist an der Wahrheit [1] interessiert, Wirtschaft an Geld. Hat mensch auch bei dieser entsetzlichen, verstörenden Vierecksgeschichte mit der Möbelindustrie, Storymachine, Armin Laschet (ja, der!) und Hendrick Streeck [2] sehen können.

    Mein Fazit? Ich zucke immer zusammen, wenn "die Wirtschaft" von Wahrheit spricht, und frage mich: "was wollen die mir verkaufen"?

    [1] Ich spreche hier vom Idealzustand...



    [2] www.capital.de/wir...einsberg-protokoll

    • @tomás zerolo:

      „ Wissenschaft ist an der Wahrheit [1] interessiert, Wirtschaft an Geld“

      Das ist denke ich nicht so einfach zu trennen. Wissenschaft wird in vielen Bereichen genau von der Wirtschaft gesponsort. Und das Wissenschaft nir an Wahrheit interessiert ist ? Da findet man in den Geschichtsbüchern genügend gegenteilige Fälle.

    • @tomás zerolo:

      > [2] www.capital.de/wir...einsberg-protokoll

      > Auch um welches Ziel es sich dabei handelt, lässt sich aus dem Konzept gut herauslesen. Es deckt sich mit dem Ziel, das auch Virologe Streeck, der sich schon seit Wochen skeptisch über die Notwendigkeit der strikten Corona-Beschränkungen äußert und vor den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns warnt, bereits am 31. März formuliert hat. In dem Konzept heißt es, die Studie werde „Wissen“ schaffen, mit dessen Hilfe sich ein „Weg zurück zur Normalität“ beschreiben lasse – also eine Lockerung des Shutdowns. Die Kommunikation für die Öffentlichkeit solle unter eine „prinzipielle Erzählung“ gestellt werden: „Wissenschaft und Fakten geben uns die Hoffnung und die Möglichkeit, wieder als Gesellschaft zu funktionieren.“

      Spannend zu lesen. Es ging also darum, Normalität zu fabrizieren, weil das diversen Unternehmen und Politikern besser gefiel.

    • @tomás zerolo:

      Dazu kommt, dass alle, die nicht geimpft sind, fast mit Sicherheit innerhalb von wenigen Monaten eine Corona-Infektion bekommen werden. Auch Kinder. Das ist nicht so wie bei vielen anderen Infektionen, wo der geimpfte Teil der Bevölkerung den nicht geimpften Teil schützt.