Computerchaos in der Sozialbehörde: "Das System ist krank"
Texte verschwinden, Klienten sind schwer zu finden: Drei Monate nach Einführung der Jugendamts-Software "Jus IT" berichten Mitarbeiter von Problemen.
Hamburg taz | Eigentlich soll die im Mai eingeführte Software „Jus IT“ Hamburgs Jugendämter entlasten und dabei helfen, den Kinderschutz zu verbessern. Aber auch drei Monate nach Start sind etliche Mitarbeiter genervt. Die Arbeit in den Allgemeinen sozialen Diensten (ASD) funktioniere nur, „weil jeder Strategien entwickelt hat, Jus IT auszutricksen“, sagt der ASD-Mitarbeiter Frank Baumann.* „Alle haben Probleme, nicht nur die alten PC-muffeligen Sozialarbeiter“, ergänzt seine Kollegin Monika Richter.* Auch ein anfangs sehr motivierter ASD-Mann sage heute: „Das System ist krank.“
Wenn Baumann in seinem Büro im 1. Stock eines Bezirksamts am PC sitzt und einen Bericht eingibt, beschert ihm Jus IT ganz praktische Probleme – alle 30 Minuten nämlich schaltet sich das Programm ab. Dadurch, erzählt er, gingen immer wieder Texte verloren, sogar dann, wenn er sie vorher gespeichert habe. Als Notlösung schreibe er Berichte nun im Textverarbeitungsprogramm, was eigentlich nicht erlaubt sei.
Derlei Kniffe gebe es inzwischen viele. So verlange Jus IT in Protokollen über Hilfeplangespräche auch den Geburtstag und die Adressen aller Beteiligten, beispielweise auch der Erzieherin oder des Lehrers eines Kindes. „Viel zu aufwändig“, sagt Baumann, deshalb gebe man bei weniger wichtigen Pflichtfeldern oft Fantasiedaten ein. Zur Zweitkraft beim Hausbesuch – aus Personalmangel nicht existent – werde dann schon mal der „Weihnachtsmann“.
Das Programm Jus IT ist seit dem 21. Mai in Hamburgs Jugendämtern im Einsatz.
Laut Plan soll es 2013 auch bei Jugendgerichtshilfe, Amtsvormündern und Abteilungen für Unterhaltsvorschuss eingeführt werden. Ob 2014 die Ämter für Sozialhilfe und Wohngeld folgen, ist noch nicht entschieden.
Wegen der hohen Kosten von insgesamt 112 Millionen Euro spotten Kritiker von der "Elbphilharmonie der Sozialbehörde". Bislang sind rund 69 Millionen Euro für die Software und den laufenden Betrieb freigegeben.
Auch Monika Richter nutzt Jus IT möglichst wenig. Die Einladungen zu Hilfeplangesprächen etwa kämen stets ohne Anschrift aus dem Drucker. Und aus den Dokumenten für Familien ließen sich Angst auslösende Formulierungen – etwa über mögliche Kosten – nicht löschen. Auch fertiggestellte Protokolle könnten in der elektronischen Akte nicht mehr geändert werden, ergänzt Baumann. Es sei ein Glück, dass derzeit noch die Papier-Akte „fallführend“ sei. In der könne die geänderte Fassung nachgetragen werden.
Selbst das Finden von Informationen werde erschwert, sagen die beiden ASD-Beschäftigten. So gebe es keine leicht handzuhabende Suchfunktion, um einen bestimmten Träger zu finden. „Schlicht gefährlich“ nennt Richter es, dass die Fälle der einzelnen Fachkräfte nach Referenznummern angeordnet sind, und nicht mehr nach Namen. Das erschwere es den Abteilungsleitungen, den Überblick zu behalten. Genau der soll durch Jus IT eigentlich verbessert werden. So werden Vorgesetzte bei Verdachtsfällen auf Kindeswohlgefährdung automatisch informiert. Und sie erhalten eine Meldung, wenn der Sachbearbeiter wichtige Klärungsschritte verpasst.
Doch auch das läuft offenbar im Alltag anders: Die in Jus IT vorgeschriebene Diagnostik sei so aufwendig, dass sie für die Praxis nichts tauge, sagt Baumann. „Ich mache lieber mehr Hausbesuche, als alle Fälle streng nach Jus-IT-Philosophie zu bearbeiten.“ Auch Richter findet, „das kann man bei dem Arbeitsdruck nicht machen“. Die Neuerung „nutzen nicht viele Kollegen“.
Stattdessen würden nun die Fälle, die bisher unter „Verdacht auf Kindeswohl“ erfasst waren, häufiger als Anfrage für „Beratung und Unterstützung“ geführt. Die Hausbesuche und Hilfen für die Familien gebe es trotzdem, allerdings sieht die Statistik dadurch anders aus. Das ist problematisch: Eigentlich will die Behörde die Jus-IT-Daten für eine Personalbemessung nutzen.
In der Sozialbehörde nennt man Jus IT eine „Herausforderung“. Es sei nicht gelungen, in den Schulungen alle Einzelfragen zu klären, räumt Sprecherin Nicole Serocka ein. Zu Teilen müsse das System noch „benutzerfreundlicher“ werden.
So sei jetzt das „Time Out“-Fenster, nach dessen Ablauf untätige Anwender vom Programm getrennt werden, von 30 auf 90 Minuten erweitert worden. Auch habe man in einigen Eingabe-Masken die Zahl der möglichen Zeichen erhöht, arbeite an weiteren Korrekturen. Vom Grundkonzept her soll sich aber nichts ändern. Nach einer Eingewöhnungsphase werde Jus IT „eine Arbeitserleichterung sein“.
Bei der Gewerkschaft Ver.di ist der Wandsbeker Personalratsvorsitzende Matthias Ebert Ansprechpartner für das Thema. „Die Ausgangssoftware hat einige arbeitsbehindernde Macken und Eigenschaften“, sagt er. Es werde „mit Druck verhandelt“, um diese zu beseitigen.
*Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis