Comic „Vatermilch“: Mein Vater, ein Geist
Irgendwo zwischen Jazz und Blues: Im Comic „Vatermilch“ verarbeitet der Zeichner Uli Oesterle Autobiografisches abgründig und leichtfüßig zugleich.
Mitte der 70er im Münchner Umland. Ein cooler Typ mit Sonnenbrille, langen Haaren, Backenbart und stylishen Klamotten bewundert morgens sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe seines Sportwagens. Für einen einfachen Vertreter nicht schlecht. Im Autoradio dudelt „Papa Was a Rolling Stone“. On Tour verführt er nebenbei so manche Hausfrau, der er seine Ware anpreist.
Am Abend, in der Pokerrunde mit seinen Kollegen, zieht er Bilanz: Vier Damen vernascht und dabei noch jede Menge Markisen verkauft! In seiner Selbstwahrnehmung ist Rufus Himmelstoss ein Held, der seinem Namen alle Ehre macht. Doch die Kollegen kennen das Getöse des Aufschneiders schon.
Uli Oesterles Held seiner Graphic Novel „Vatermilch“ erinnert äußerlich an Günter Netzer, im Charakter eher an den „Monaco Franze“, den Helden von Helmut Dietls 80er-Jahre-Kult-Serie über einen Münchner „Stenz“, dem das Glück nur so zufliegt.
Doch ganz so leicht hat es der Himmelstoss dann doch nicht.
Rufus’ Glückssträhne endet abrupt. Seine Prahlereien beeindrucken weder seinen Chef noch seine Frau. Der Westentaschen-Monaco-Franze ist hoch verschuldet, wird gefeuert. Und von seiner Frau auf die Straße gesetzt. Ach, und da gibt es ja noch den gemeinsamen Sohn, der den Vater nur gelegentlich am Abend – betrunken – zu sehen kriegt.
Der Vater verschwindet
Rufus hat ihm zuletzt eine Actionfigur mitgebracht, „Big Jim“, doch der geht gleich kaputt, da ihm seine Frau – die er „Zuckerwürfel“ nennt – die Figur hinterherwirft, mit deren Hilfe er den kleinen Victor nur bestechen will, um seine Gunst zu gewinnen. Der ist noch zu klein, um das ganze Durcheinander zu verstehen. Der Vater verschwindet. Landet auf der Straße. Wird unsichtbar.
Der Sohn wird Comiczeichner. Und wie sein Vater, der nur noch ein dunkler Schemen in der Erinnerung ist, nennt Victor seine Frau „Zuckerwürfel“ und gründet eine Familie.
Der Münchener Comiczeichner Uli Oesterle hat sich diese Vater-Sohn-Geschichte nicht einfach ausgedacht: Schon lange tüftelt der 1966 in Karlsruhe geborene Künstler daran, aus dem autobiografischen Stoff eine Graphic Novel zu machen. Wie er im Nachwort des Buchs ausführt, hat auch sein Vater Peter Oesterle die Familie in den 70er Jahren verlassen. Er wurde obdachlos, und nach kurzer Zeit brach jeder Kontakt ab. Lange blieb er ein „Geist“, der Gerüchten zufolge immer mal wieder an verschiedenen Orten in Karlsruhe gesichtet wurde.
Nachdem der Zeichner ihn ein einziges Mal, 1989, nach dem Tod der Großmutter, wieder traf, verschwand er erneut. Erst 2010 erhielt Oesterle, der mittlerweile selbst Vater geworden war und als Illustrator und Comiczeichner Erfolg hatte, eine amtliche Nachricht: Sein Vater war verstorben.
Der Leichnam eines Unbekannten
In der Graphic Novel geschieht es 2005, dass Victor Himmelstoss mit dem Leichnam eines Unbekannten, ihm Fremden – seinem Vater – konfrontiert wird.
Die Ähnlichkeiten der realen Personen mit den Comiccharakteren in „Vatermilch“ sind augenscheinlich, und doch orientiert sich Oesterle nur lose an den Fakten. Der Zeichner hat sich vorgenommen, die vom Vater hinterlassene schmerzliche Lücke zu schließen, die ihn immer wieder bedrückte, und dessen Geschichte zu erzählen – zumindest so, wie sie verlaufen sein könnte.
Als auflockerndes Element ist ein Ermittlerpaar zu beobachten, das heutige „Tatort“-Kabbeleien aufs Beste parodiert. Für 1975 kurios, ist es hier eine Kommissarin (Möller), die ihren depperten Untergebenen (Prüller) immer wieder zusammenstaucht.
Ein vierteiliger Zyklus
„Vatermilch – Buch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“ ist der erste Band eines vierteiligen Zyklus. Bereits 2016 hatten Oesterles erste Entwürfe dazu die JurorInnen des Comicbuchpreises der Berthold Leibinger Stiftung begeistert, sodass er den Preis gewann.
Sein Perfektionismus führte schon früher dazu, dass Uli Oesterle seine Arbeiten in recht großen Zeitabständen veröffentlichte. Seit den 90er Jahren waren das zunächst kurze, düstere Comicerzählungen (gesammelt gibt es davon eine Auswahl im Band „Kopfsachen“, Carlsen Verlag 2017).
Meist in reduzierter Farbigkeit, in einem an Druckgrafiken des deutschen Expressionismus erinnernden, kantigen Stil gezeichnet, ziehen sie den Leser in die obskure Gedankenwelt ihrer Figuren hinein – meist kaputte Nachtgestalten, innerlich Versehrte, psychisch Kranke, Abgehängte oder Trinker, die in einer schief gezeichneten Welt herumtorkeln. Die Texte – Dialoge und Erzählerstimmen – sind den Zeichnungen gleichwertig, wohldurchdacht, entwickeln literarische Tiefe.
In „Hector Umbra“, seinem bisherigen, mehrfach ausgezeichneten Opus Magnum (Carlsen 2004) um einen in München agierenden versoffenen Nachtschwärmer mit paranormalen Fähigkeiten, weitete er diese Erzählweise auf die lange Strecke aus, und das Münchener Ambiente gab noch einen guten Schuss Lokalkolorit dazu.
Möglichst glaubwürdig erzählen
Mit „Vatermilch“ reduziert Uli Oesterle die fantastischen und grotesken Elemente früherer Geschichten auf ein Minimum, um seine authentische Geschichte möglichst glaubwürdig zu erzählen. Dabei ist er nicht weniger einfallsreich.
Das München der 70er Jahre wird vor den Augen der Leser wieder lebendig, legendäre Schwabinger Discotheken wie das „Yellow Submarine“ werden von Typen mit Schlaghosen und Frauen mit Miniröcken bevölkert, als Schleifen gezeichnete Songtexte der Zeit (wie das perfekt zum Plot passende „Papa Was a Rolling Stone“ oder „Kung-Fu-Fighting“) kommentieren das Geschehen über mehrere Seiten hinweg.
Oesterles Affinität zur Musik zeigte sich schon in frühen, meisterlichen Erzählungen wie „Vier Minuten sechsundvierzig“ (1998, aus „Kopfsachen“), in der einem angeduselten Kneipenbesucher Tom Waits leibhaftig erscheint – genau für die Länge seiner Single „Bad Liver and a Broken Heart“.
Auch „Vatermilch“ erscheint in Struktur und Erzählweise wie ein perfekt auf den Punkt komponiertes und zugleich improvisiert wirkendes, längeres Musikstück, irgendwo zwischen Jazz und Blues, das zwischen den Rufus- und den Victor-Episoden rhythmisch wechselt.
Kleine satirische Spitzen
Die parallel montierte, 2005 angesiedelte Handlung um den erwachsenen Sohn Victor durchsetzt Oesterle geschickt und voller Selbstironie mit kleinen satirischen Spitzen. So hadert Victor mit der eigenen Vaterrolle.
Vielleicht, weil er selbst nie einen Vater und somit ein Vorbild hatte, schafft er es nicht, Beruf und Privatleben miteinander in Einklang zu bringen, muss nach einer Sauftour im Knast übernachten und grübelt frustriert über eine neue „Spezies von Übervätern“, die das alles ohne Probleme hinkriegt und auch noch „reichlich Kohle“ nach Haus bringt. Ein Seitenhieb auf das „neue Bürgertum“ in Schwabing oder Prenzlauer Berg.
Oesterles Kunst ist nicht nur die differenzierte, abgründige und zugleich anrührende Charakterzeichnung, die einseitige Schuldzuweisungen vermeidet, es gelingt ihm auch, seine im Grunde tieftraurige Geschichte eines irreversiblen Absturzes auf leichtfüßige Weise und mit pointiertem Humor konsumierbar zu machen.
Smarter Drive
Seinen Zeichenstil hat der Künstler erneut verfeinert: Er verzichtet oft auf Konturierungen, um mittels nuancierter Licht- und Schattengestaltung feinste Stimmungen zu erzeugen, und unterlegt seine sehr abwechslungsreichen Seitenlayouts mit ausgewählten matten Farben.
Bleibt zu hoffen, dass der smarte Drive der „Irrfahrten“ von Band 1 auch die weiteren Bände beherrschen wird, die ungefähr im Jahrestakt erscheinen sollen. In puncto erzählerischer Tiefe und zeichnerischer Finesse hat Uli Oesterle jedoch schon jetzt einen Maßstab für Graphic Novels gesetzt, der hierzulande selten ist.