Comic „Die Insel der 100.000 Toten“: Trockener Humor auf großer Fahrt
Piraten oder Henker? Fabien Vehlmann und Jason erzählen in ihrer Graphic Novel von einer sehr ungewöhnlichen Bildungseinrichtung.
Einer der ältesten Kämpfe im Internet ist die Frage: Piraten oder Ninjas? Wer würde gewinnen, wenn beide im direkten Duell aufeinanderträfen? Piraten haben Schiffe und Schusswaffen, sagen die einen. Ninjas sind so gut wie unsichtbar und können lautlos töten, sagen die anderen.
Geklärt ist nun immerhin die Frage „Piraten oder Henker?“ Der eindeutige Gewinner bisher: die Henker (die mit ihren Masken Ninjas verblüffend ähnlich sehen, aber das nur nebenbei). Auf „Die Insel der 100.000 Toten“ haben sie sich ein Ausbildungszentrum gebaut, so steht es in der ersten Comic-Kollaboration des französischen Szenaristen – eine Art Drehbuchautor für Comics – Fabien Vehlmann und des norwegischen Zeichners Jason.
Und weil kleine Henkerschüler viele Todeskandidaten zum Üben brauchen, wird mittels fingierter Flaschenpostschatzkarten ständig Nachschub beschafft: Piraten aus der ganzen Karibik lassen sich auf die Insel locken, sie werden gefangen genommen, gefoltert und schließlich umgebracht.
Jason, Stammautor des Berliner Verlags Reprodukt, liebt Gedankenspiele, die in pythonesker Witzmechanik eine Verschiebung der Realität erproben: In „Hemingway“ zeigt er berühmte Schriftsteller der 20er Jahre in Paris – als Comiczeichner. „Ich habe Adolf Hitler getötet“ erzählt von einer Gesellschaft, in der //www.taz.de/Comic-Ich-habe-Adolf-Hitler-getoetet/!90200/:Auftragsmorde legal und alltäglich sind. Die Absurdität der Geschichten wird dadurch verstärkt, dass alle Figuren Tierköpfe haben, die aber keinerlei Symbol für irgendwas sind – so auch in „Die Insel der 100.000 Toten“.
Natürlich bietet so eine Henkerschule immer wieder Anlässe für äußerst trockenen Humor. Da bringen die Lehrer ihren Schülern bei, wie zu vermeiden sei, dass die Toten nach der Hinrichtung einen unangemessenen Gesichtsausdruck tragen. Der Schulleiter zeigt dem Kollegium ein Ergebnis „aus der Entwicklungsabteilung“, eine Kanone, die gleich mehrere Menschen in die Luft schießt, und sinniert: „Ich weiß nicht so recht, wenn man tötet wie am Fließband, welche Würde hat unsere Profession dann noch?“
Und wie an jeder Schule gibt es auch hier einen Außenseiter, einen Träumer, der ganz andere Sachen im Kopf hat als die Unterrichtsinhalte, der nach einem Unfall beim Kopfabhacken zum Schularzt muss und beim „Scheiterhaufen stapeln“ eine Miniblockhütte baut. „Ich dachte, so sieht es netter aus“, sagt er dem entsetzten Lehrer.
Sachliche Zeichnungen
Der Junge wird noch wichtig werden, wenn die Geschichte, die Fabien Vehlmann rund um das skurrile Szenario gesponnen hat, ins Rollen kommt: Die Teenagerin Gweny, die allein mit ihrer geisteskranken Mutter in einem Küstenort lebt, kommt dahinter, dass ihr seit Jahren verschollener Vater auf der Insel der 100.000 Toten gelandet ist.
Sie schafft es, eine Gruppe Piraten zu überreden, mit ihr dorthin zu segeln. Natürlich werden sie alle gefangen genommen, und in der Folge kommt es zu zahlreichen Wendungen und Wirrungen, wobei auch die Frage „Piraten oder Henker?“ noch einmal neu verhandelt wird.
Das ist gegen Ende beinahe actionreich, aber bleibt auch dann unspektakulär in seiner herausgestellten Dauerlakonie. Das liegt nicht zuletzt an den sehr klaren, sachlichen Zeichnungen Jasons, seinem statischen Seitenaufbau und den ausdrucksleeren Gesichtern seiner Figuren, die immerhin den dezenten und recht sparsam eingesetzten Humor gut unterstreichen. So ist „Die Insel der 100.000 Toten“ zwar ein solider unterhaltsamer Comic, aber auch nicht gerade irre inspirierend oder gar neue Perspektiven eröffnend.
Fabien Vehlmann, Jason: „Die Insel der 100.000 Toten“. Deutsch von Mireille Onon. Reprodukt Verlag, Berlin 2013, 56 Seiten, 15 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen