Cohn-Bendit über Frankreichs WM-Team: "Krise der multikulturellen Gesellschaft"
Für den deutsch-französischen Politiker Cohn-Bendit spiegelt die Krise von Frankreichs Fußballs die Krise der multikulturellen Gesellschaft dort: "die Zerrissenheit, den Hass und den Neid dieser Gesellschaft".
taz: Daniel Cohn-Bendit, Sie waren der fantasievollste Kreateur des Traums von 1998, in dem der französische WM-Sieg das Gelingen einer multikulturellen Gesellschaft ausdrückte. Und jetzt?
Daniel Cohn-Bendit: Jetzt sehen wir, dass eine multikulturelle Gesellschaft auch in eine Krise kommen kann. 1998 war Frankreich eine Gesellschaft, die zusammenfinden wollte. Heute ist sie eine völlig zerstrittene Gesellschaft, die auseinanderfällt. Die Mannschaft spiegelt die Zerrissenheit, den Hass und den Neid dieser Gesellschaft. Im französischen WM-Team waren Spieler, die nicht miteinander wollten. So ist es auch in der Gesellschaft.
Wen meinen Sie konkret?
Letzten Samstag haben in Paris tausende Chinesen demonstriert gegen Maghrebiner, die im selben Stadtteil Belleville wohnen. Das ist eine nicht funktionierende multikulturelle Gesellschaft, die sich auf separate Identitäten zurückzieht. Die Nationalmannschaft war ein Haufen von Clans. Wenn du solche Clans hast, kannst du nicht Fußball spielen.
Was für Clans?
Freundschaftsgruppen, die sich lange kennen, Netze. Weil sie einst in ähnlichen Banlieues aufgewachsen sind oder weil sie heute in denselben europäischen Städten spielen.
Das Ergebnis war ein Team, das mit einem Tor und einem Punkt ausschied, keinen Fußball spielte und am Ende sogar das Training verweigerte.
Ich habe gesagt: Diese Spieler sind Helden. Endlich nehmen sie die Französische Revolution ernst: Wir brauchen keinen Trainer, wir brauchen keinen Verband, wir machen Selbstverwaltung. So wie Arbeiter, die ihren Betrieb besetzen und selbst verwalten. Aber manche haben die Ironie nicht verstanden. Die Nerven liegen blank. Es wurde übertrieben als nationales Drama, dass die Spieler einmal nicht trainiert haben. Mein Gott.
Wie kam es zu dem Verhalten, mit dem die Profis letztlich ihren eigenen Marktwert beschädigt haben, also ihren Ego-Interessen schadeten?
Es war die Solidarität der Underdogs aus den Banlieues, die sich schützend vor ihren Kumpel Anelka gestellt haben, nachdem sein Wortgefecht mit dem Trainer öffentlich gemacht worden war. Die Spieler haben sich zurückgesetzt gefühlt in eine Zeit, die sehr hart war für sie.
Kneipensolidarität?
Ja, die Kabine ist Privatsphäre. Da wurde eine Grenze überschritten. Das war unverantwortlich von L'Equipe. Das ist, wie wenn man Lafontaine destabilisieren will, indem man ihm öffentlich ein Techtelmechtel unterstellt. Das geht nicht.
Die eine Gang um Anelka und Ribéry bekämpfte den Bildungsbürgersohn Gourcuff.
Jede Gang versucht sich selbst zu retten oder einen individualisierten Weg zu finden. Der Klassen- und Kulturunterschied wird wieder gepflegt. Das funktioniert nicht. Das ist, wie wenn in den Banlieues die Jugendlichen die Busse mit Steinen bewerfen, weil sie keine Busse wollen. Damit bewerfen sie ihre eigenen Leute. Und wenn sie Autos anzünden, dann die ihrer Eltern.
Was bedeutet das?
Es ist Ausdruck dieser fatalen neoliberalen Ideologie. Jeder für sich. Keiner für alle. Was zählt, ist mehr Status und mehr Geld.
Sie spielen auf Anelka an?
Anelka sagt: Ich will in Frankreich nicht spielen, weil man da zu viel Steuern bezahlen muss. Der Mann ist auf einem absoluten Egotrip, aber das ist seine Sache. Nur: So kann man keine Mannschaft für eine WM formen. Aber ich meine auch Franck Ribéry. Der ist jung, spielt Fußball und Playstation und macht ab und zu das, was junge Männer machen, wenn sie keine Orientierung haben.
Und was wäre das?
Es ist ja kein Zufall, welche Spieler öfter im gleichen Puff waren. Die werfen es den anderen sogar vor, wenn sie nicht mitgehen. Das ist Kulturkampf. Diese Spieler haben kein gemeinsames Projekt. Für sie war die Nationalmannschaft nur eine Möglichkeit, den Marktwert zu steigern.
Ihr sozialistischer Kollege Jérôme Cahuzac hat Sarkozy als Schuldigen ausgemacht für den Egotrip Frankreichs. So populistisch sind Sie nicht?
Na ja, man könnte sagen, Domenech erreichte so wenig die Mannschaft, wie Sarkozy das Volk und diese individualistische Gesellschaft erreicht. Was Anelka gesagt hat, hat der große Sarkozy-Unterstützer Johnny Halliday auch gesagt: Ich wohne in der Schweiz, ich will nicht so viel Steuern zahlen. Das hat schon mit dem Gefühl zu tun, das Sarkozy vermittelt: Die Reichen sind reich und die anderen sollen sich anstrengen, reich zu werden.
Ist der neue Nationaltrainer Laurent Blanc als Vertreter des geplatzten 98er-Traums jetzt der Richtige?
Er ist als Weltmeister eine Autorität und er ist zwei Meter groß.
Europas alte Fußballgroßmächte Italien, Deutschland, England und Frankreich, die Weltmeister des Kontinents, hatten alle keine gute Vorrunde.
Ja, Europa sieht alt aus. Vielleicht kommt Dick Cheney noch zu einem großen Sieg. Die Engländer waren bisher plump, die Franzosen waren plump, die Italiener sowieso. Und die Spanier kommen mir überspielt vor.
Was bedeutet das?
Es zeigt, dass es nicht genügt, mit breitem Kreuz reinzukommen zu sagen: Ich bin Italien, ich bin Frankreich. Und dann nichts zu bringen. So gesehen ist es beruhigend, wenn solche Teams jetzt schon nach Hause fahren.
Sie hatten einen zweistelligen Betrag auf den WM-Titel der Elfenbeinküste gesetzt. Illusionärer Gutmenschenanfall oder die Spekulation eines Hasardeurs?
Es zeigt sich, dass die Afrikaner es nicht schaffen, zusammen etwas zu entwickeln. Es gibt im Moment nur zwei Mannschaften, die unantastbar scheinen: Brasilien und Argentinien. Aber das kann im nächsten Moment auch wieder anders sein.
Brasilien spielt jetzt wie Argentinien früher und umgekehrt?
Nein, Brasilien spielt wie Deutschland früher, aber mit Brasilianern. Das sind brasilianische Qualitäten, die europäisch neu sozialisiert und deformiert wurden.
Herr Cohn-Bendit, kommt der ethnische Riss, der Frankreich spaltet, auch in Deutschland?
Das muss man sehen. Diese Özils haben lange gezögert, für Deutschland zu spielen. Das gesellschaftliche System muss attraktiv sein. Im Moment gibt es eine Bewegung von jungen Migranten, die Deutsche werden wollen. Da ist Hoffnung. Das sind die Nachwirkungen der rot-grünen Staatsbürgerrechtsreform.
Darauf bestehen Sie jedes Mal.
Das ist so und dabei bleibe ich. Aber wenn das mittelfristig nichts nützt in der gesellschaftlichen Akzeptanz, da kann sich das wieder ins Gegenteil wenden. Es kommt auf unsere Angebote an.
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