Chrupalla als AfD-Chef in Frage gestellt: Zwei Rücktritte und viel Nachtreten
Die AfD-Fraktion im Bundestag streitet sich mal wieder: Nach zwei Austritten geht es auch um die Machtfrage vor dem anstehenden Bundesparteitag.
Nun meldet Lucassen erneut selbst Ansprüche auf den Bundesvorsitz an und gibt dabei seinem Fraktionschef noch einen mit: „Die AfD hat sich immer sehr gegen eine Ämterhäufung ausgesprochen, und die Aufgaben als Fraktionsvorsitzender sind bereits sehr fordernd“, sagte Lucassen der taz zur Kandidatur Chrupallas. Mit ein wenig Abstand zum abgesagten Parteitag halte er die Personalfrage wieder für offen. Er selbst stehe weiter für den Vorsitz zur Verfügung. Lucassen gilt mit dem bayerischen Bundestagsabgeordneten Peter Boehringer und Chrupalla als einer der aussichtsreicheren Kandidaten für die Parteispitze.
Es war bereits das zweite Mal diese Woche, dass Lucassen öffentlich seine Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Chrupalla kritisierte: Schon nach den Rücktritten von Johannes Huber und Uwe Witt kurz vorm Jahreswechsel hatte er von „grundsätzlichen Problemen“ in Fraktion und Partei gesprochen. Man müsse sich fragen, was man anders machen könne, damit weitere Austritte künftig vermieden werden können, sagte Lucassen der taz.
Weidel und Chrupalla hatten die Rücktritte bedauert und die Abgeordneten aufgefordert, ihre Mandate für Nachrücker freizumachen. Zudem gifteten sie gegen Lucassen, standesgemäß in der neurechten Jungen Freiheit: „Daraus politisches Kleingeld zu schlagen, ist kein guter Stil und zeugt von schlechtem Urteilsvermögen“, sagte Weidel. Sie wünsche sich, dass man zweimal nachdenke, „bevor man mit haltlosen Behauptungen die gesamte Fraktion öffentlich in Misskredit bringt“. Chrupalla sekundierte: „Lucassen kann sich jederzeit persönlich an mich wenden, wenn ihm ein befreundeter Fraktionskollege anvertraut, dem Druck nicht mehr standzuhalten.“
Neujahrsgruß wie eine Kriegserklärung
Wann über den Vorsitz entschieden wird, ist indes weiter unklar: Laut Bundesgeschäftsstelle soll der Parteitag schnellstmöglich nachgeholt werden – „womöglich im ersten Quartal“. Bislang gebe es aber weder ein Datum noch einen Ort. Sicher ist zumindest eines: Der Parteitag wird der letzte sein, den Jörg Meuthen, der für AfD-Verhältnisse als gemäßigt gilt, als Parteivorsitzender eröffnet – er tritt nach Grabenkämpfen mit dem formal aufgelösten „Flügel“ nicht mehr an.
Bis dahin bleibt noch ein wenig Zeit für die verschiedenen Lager, die Messer zu wetzen: Angefangen hat damit bereits der völkische Bundestagsabgeordnete Jürgen Pohl. Dessen Neujahrsgruß liest sich wie eine Kriegserklärung an Meuthens Verbündete. „Genug mit den liberalen Freunden in unserer Partei“, erklärte Pohl. Seine Forderung: „Aufstehen und Soziales und Patriotismus in die Gesellschaft tragen.“ Alice Weidel gefiel der Beitrag. Darunter antwortete die zum Meuthen-Lager zählende Fraktionskollegin Joana Cotar: „Überlegen Sie nochmal, was liberal tatsächlich heißt und hören Sie endlich mit der Spaltung der Partei auf, die Sie anderen immer so gern vorwerfen.“
Zudem will der gerade aus der Fraktion ausgetretene Witt am 18. Januar die nächste Bombe platzen lassen und die Gründe für seinen Rückzug näher erläutern. Details will Witt noch nicht verraten. Er wird jedoch bei der Online-Pressekonferenz nicht allein sein, heißt es. Bekannt ist, dass Witt seinen Rückzug in internen Schreiben mit jüngsten „Grenzüberschreitungen“ von Parteimitgliedern begründete. Er habe Konsequenzen angekündigt, sobald diese die Bundestagsfraktion erreichten oder der Bundesvorstand „keine klare Kante“ dagegen zeige. Sein Bundestagsmandat will Witt aber behalten.
Tatsächlich schreitet die Radikalisierung der extrem rechten Partei weiter voran. Zuletzt hatten prominente Mitglieder der AfD Bayern in Chats einen Bürgerkrieg heraufbeschworen. Der Thüringer Landeschef Björn Höcke spricht mit Blick auf die Coronamaßnahmen von einer drohenden Diktatur, gegen die die Bürger auf die Straße gehen müssten. AfD-Politiker*innen treten als Demo-Anmelder*innen auf und demonstrieren zusammen mit Neonazis – oder rufen dazu auf, Personalausweise bei unangemeldeten Aufzügen Zuhause zu lassen, um der Polizei Identitätsfeststellungen zu erschweren.
Politisch konnte die AfD daraus jedoch bislang kaum Kapital schlagen und dümpelt in Umfragen weiter zwischen zehn und elf Prozent. Das hindert sie aber nicht daran, weiter gegen Impfungen zu mobilisieren – auch wenn bereits mehrere AfD-Politiker ungeimpft an Covid-19 gestorben sind.
Hildmanns Helfer
Der zweite Rücktritt in der Fraktion hat wiederum direkt mit AfD-Desinformationen zu Corona zu tun: Johannes Huber zog Konsequenzen aus zahlreichen geleakten Nachrichten aus dem besagten Telegram-Chat der AfD Bayern. In denen soll Huber sich nicht nur rassistisch und antisemitisch geäußert haben. Aus seinen über 4.000 Nachrichten soll auch hervorgehen, dass Hubers Mitarbeiter dem abgedrifteten Neonazi Attila Hildmann Mitte 2020 bei der Erarbeitung einer Petition halfen. Huber bezeichnete die Chats als „pointiert-überspitzt“.
Vor rund einem Monat war bereits bekannt geworden, dass er via Telegram Anleitungen geteilt haben soll, um PCR-Testergebnisse zu fälschen – mittels Speichel von Infizierten, den man sich selbst zuführen soll. Alles nicht ernst gemeint, erklärte Huber später. Er war neben dem Landesvorsitzenden der AfD Bayern, Stephan Protschka, auch Administrator besagter bayerischer Chat-Gruppe, zu der inzwischen die Sicherheitsbehörden ermitteln und auch schon zwei Hausdurchsuchungen bei AfD-Politikern erfolgten.
Die AfD-Fraktion, die ursprünglich 83 gewählte Abgeordnete zählte, ist damit auf nun 80 Mitglieder geschrumpft. Der in NRW gewählte Matthias Helferich trat der Fraktion erst gar nicht bei, nachdem ein Chat bekannt wurde, in dem er sich als „das freundliche Gesicht des NS“ bezeichnete.
Zudem trifft die Fraktion im Bundestag inzwischen auf geballten Widerstand: Im Dezember waren ihre Kandidaten für die eigentlich zugeteilten Vorsitze im Innen-, Gesundheits- und Entwicklungszusammenarbeits-Ausschuss allesamt bei Wahlen durchgefallen. Die Fraktion gab nun bekannt, dagegen am 31.12.2021 eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht zu haben.
Erfolgversprechend ist die allerdings nicht wirklich: In ähnlicher Weise hatte die AfD bereits in der vergangenen Legislatur gegen ihre Nicht-Berücksichtigung bei der Wahl zum Bundestags-Vizepräsidentengeklagt. Kein AfD-Kandidat hatte in mehreren Wahlgängen die erforderliche Mehrheit erhalten, im aktuellen Bundestag ist es genau so. Im Eilverfahren blieb die AfD-Klage erfolglos, Ähnliches dürfte wohl auch bei den Ausschussvorsitzen bevorstehen: Die Posten stehen der AfD zwar formal zu, aber niemand kann die restlichen demokratischen Abgeordneten zwingen, AfD-Politiker*innen zu wählen.
Die jüngsten Entwicklungen der Partei dürften derweil auch den Verfassungsschutz interessieren. Die AfD klagt derzeit vor dem Verwaltungsgericht in Köln gegen eine Einstufung als rechtsextremer Verdachtsfall. Im März wird darüber verhandelt. Einzelne Landesverbände wie die AfD Thüringen sind bereits als „erwiesen extremistisches Beobachtungsobjekt“ eingestuft. Weitere östliche Landesverbände sowie die Junge Alternative gelten als Verdachtsfälle. Nach den jüngsten Radikalisierungsschüben dürften die Verfahren in Köln nicht positiv für die AfD ausgehen.
Das wiederum verheißt aus AfD-Sicht nichts Gutes für die vier im Jahr 2022 anstehenden Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Die Landesverbände gelten in jedem der westlichen Bundesländer als tief zerstritten. In Umfragen für die Länder dümpelt die AfD mehr oder weniger knapp über der Fünfprozenthürde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?