Chronisch Kranker soll zwangsumziehen: Bezirk lenkt Gutachter
Das Grundsicherungsamt Charlottenburg-Wilmersdorf will einen chronisch Kranken wegen seiner hohen Miete zum Umzug bewegen - mit fraglichen Methoden.
Christoph Müller* hat ein Problem. Bis 2002 arbeitete er in der Werbung und im Medienbereich. Er konnte sich eine geräumige Wohnung leisten. Der heute 43-Jährige lebt auf 90 Quadratmetern, die Kaltmiete beträgt 787 Euro plus Heizkosten. Seit 2003 ist Müller psychisch schwer krank, er leidet unter Panikattacken und Angstzuständen. Auch körperliche Beschwerden kamen hinzu, eine chronische Darmentzündung, ein Darmdurchbruch folgte. Heute muss das Grundsicherungsamt Charlottenburg-Wilmersdorf die Kosten für seine Wohnung tragen - und will ihn auf Biegen und Brechen zum Umzug bewegen.
Offenbar nutzte das Amt, das der Sozialstadträtin Martina Schmiedhofer (Grüne) untersteht, dafür unlautere Methoden: Eine Amtsärztin sollte im vergangenen Frühsommer beurteilen, ob Müller ein Wohnungswechsel zuzumuten ist. Sie erfuhr vom Amt die derzeitige Miethöhe - und bestätigte prompt, dass Müller durchaus in der Lage sei umzuziehen. Dabei gebe es neun ältere Gutachten von Behörden, die zu dem Schluss kommen, dass ihm ein Wohnungswechsel aufgrund seiner psychischen Probleme eben nicht zuzumuten sei, sagt Müller. "Müsste ich aus meiner Wohnung raus, wäre das für mich das Ende. Dann bin ich durch."
Tatsächlich zitiert die Amtsärztin, eine ausgebildete Urologin, auch andere Gutachter. Diese warnen vor Selbstmordabsichten Müllers, sollte ein Umzug erneut angedacht werden. Der Kommentar der Ärztin dazu: "Nach Aktenlage kann zu diesen Äußerungen meinerseits keine Aussage getroffen werden." Die Amtsärztin hätte die Miethöhe nicht erfahren dürfen, regt sich Müller auf. Das habe keinen anderen Sinn, als das Gutachten der Ärztin in die gewünschte Richtung zu lenken - und ihn zum Umzug zu zwingen. Er wendete sich an den Berliner Datenschutzbeauftragten. "Nach dem Sozialgesetzbuch dürfen nur die erforderlichen Sozialdaten übermittelt werden", sagt Volker Brozio, Leiter der Rechtsabteilung beim Datenschutzbeauftragten. Die Amtsärztin habe Müllers Gesundheitszustand bewerten sollen. "Die Miethöhe spielt für die medizinische Frage, ob jemand umzugstauglich ist oder nicht, keine Rolle", so Brozio. Die Datenschützer teilten dem Bezirksamt mit, dass hier ein Mängel bestünde. Sie empfahlen dem Amt, in Zukunft genauer zu prüfen, welche Infos weitergegeben werden und welche nicht.
Es stellte sich heraus, dass Müller kein Einzelfall ist. Das Grundsicherungsamt habe offenbar auch bei anderen Betroffenen wie bei ihm verfahren, berichtet der Datenschutzbeauftragten des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, Helmut Weber. Man habe man ihm gesagt, dass es in Einzelfällen sinnvoll sei, die Miethöhe den Ärzten mitzuteilen, erzählt der Bezirks-Datenschützer. "Im Rahmen der sozialen medizischen Gesamtwirkung könnte das erforderlich sein, wurde mir erklärt."
Tatsächlich hält Stadträtin Martina Schmiedhofer nach wie vor daran fest, dass die Miethöhe für die Beurteilung der Umzugsfähigkeit wichtig ist. "Wenn zum Beispiel die erlaubte Miethöhe nur in einem geringen Umfang überschritten wird, scheint es unangemessen, bei einer belasteten Person einen solchen Aufwand zu treiben", sagt sie der taz. Aus dem Hinweis der Datenschützer zieht sie folgenden Schluss: "Wir können uns vorstellen, in Zukunft den Amtsärzten nur mitzuteilen, ob die Miethöhe in geringem oder in größerem Maße überschritten wird. Die genaue Summe werden wir nicht mehr nennen."
Volker Brozio irritiert diese Aussage. "Wenn das so ist, müssen wir die Sache noch mal aufgreifen", sagt er. Es gehe schließlich darum, dass die Miethöhe für die amtsärztliche Untersuchung grundsätzlich nicht erforderlich sei. Berücksichtigt das Bezirksamt den Einwand weiterhin nicht, könnten die Datenschützer das erneut beanstanden und den Fall im Abgeordnetenhaus zum Thema machen.
Trotz allem soll Müller die Miete zum Februar abgesenkt werden - auf 378 Euro. Das ist die Warmmiete, die das Amt einer Einzelperson bezahlt. Bleibt er in seiner Wohnung, müsste er die Differenz selbst aufbringen. Das Geld hat er nicht. Deshalb will er weiterkämpfen und mit Hilfe eines Anwalts gegen die Mietminderung vorgehen.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen