Christopher Lauer über Berliner Politik: „Rot-Rot-Grün muss geil abliefern“
Ex-Pirat Christopher Lauer ist seit Kurzem SPD-Genosse. Ein Gespräch über Politik, Glaubwürdigkeit und die neue linke Koalition in Berlin.
taz: Herr Lauer, Sie sind jetzt echt in der SPD?
Christopher Lauer: Echt. Seit dem 16. oder 18. September bin ich zahlendes Mitglied, ja.
Wie fühlt sich das an?
Ich habe Jahre Oppositionsarbeit gemacht. Für mich ist interessant, welche anderen Möglichkeiten sich jetzt öffnen, auf Politik Einfluss zu nehmen. Auch weil der Innensenator jetzt ein Genosse ist.
Hat Sie Andreas Geisel, der designierte SPD-Innensenator, schon angerufen?
Wir sprachen am Rande des letzten Plenums vor zehn Tagen ein bisschen miteinander. Über Innenpolitik und den Koalitionsvertrag. Aber die Initiative kam von mir. Ich fragte ihn, ob er Bock hat, sich mal zu treffen: Ich weiß ja, wie das ist, ohne juristische Ausbildung oder Vorkenntnisse in die Innenpolitik geworfen zu werden.
Was ist das Wichtigste für einen Neuling?
Ich hatte eine unfassbar gute Mitarbeiterin. Ich konnte ihr vertrauen, sie war 100 Prozent loyal, wir hatten eine klare Arbeitsteilung. Sie hat quasi den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt, ich musste dann das Tor machen. Wenn ich das nicht tat, bekam ich von ihr einen richtigen Anschiss. Das brauchst du in der Politik, wenn dein Wissen über dein Fachgebiet nur rudimentär ist.
Der Mensch: 1984 im Hunsrück geboren, wächst Christopher Lauer bei seiner Mutter in Bonn auf. Die Beamtin ist alleinerziehend. Lauer geht auf eine Privatschule. Im Rahmen der Hochbegabtenförderung studiert er schon während der Schulzeit an der Universität Bonn Physik. Nach dem Abitur folgt der Zivildienst. 2005 zieht er nach Berlin. An der Technischen Universität studiert Lauer Kultur und Technik. 2008 geht er für ein Auslandssemester nach Hangzhou in China.
Der Politiker: 2009 tritt Lauer bei den neu gegründeten Piraten ein, wird 2010 Mitglied des Bundesvorstands. 2011 ziehen die Piraten und mit ihnen Lauer aus dem Stand mit 8,9 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Lauer wird innenpolitischer Sprecher. Schnell avanciert das politische Naturtalent mit provokanten Reden zu einem der bekanntesten Politiker der Stadt. 2014 zerlegen sich die Piraten im Streit. Lauer tritt aus der Partei aus, bleibt aber bis zum Ende der Legislaturperiode Mitglied der Fraktion. Im September 2016 tritt er in die SPD ein.
Der Nebenjob: 2015 arbeitet Lauer ein Jahr für den Springer-Verlag als Leiter für strategische Innovation. Die Höhe seines Gehalts, rund 7.000 Euro im Monat, veröffentlicht er auf seiner Website. Der Job bringt ihm viel Kritik ein.
Das Bekenntnis: 2012 macht Lauer öffentlich, dass er unter einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leidet und deshalb Medikamente nimmt. Damit will er andere ADHSler ermutigen, offen mit ihrer Situation umzugehen. (plu)
Was wollen Sie jetzt?
Als SPD-Mitglied, Innenpolitiker und Berliner ist es mein ganz egoistisches Interesse, dass das Innenressort und die Verwaltung samt Bürgerämtern gut funktionieren. Wenn die SPD das verkackt, geht sie 2021 zehn Jahre in die Opposition.
Haben Sie am rot-rot-grünen Koalitionsvertrag mitgewirkt?
Ich habe fleißig Werbung für meine Themen gemacht.
Zum Beispiel?
Ich habe eine zehnseitige Wunschliste geschrieben.
Was davon findet sich im Koalitionsvertrag wieder?
Die Öffnungszeit der Gewaltschutzambulanz an der Charité wird auf sieben Tage rund um die Uhr ausgeweitet. Ich stellte erst 2013 den Antrag, dass diese Ambulanz überhaupt eingerichtet wird: Für Berlin ist das geradezu Lichtgeschwindigkeit. Funkzellenabfrage und Stille SMS werden jetzt rechtskonform eingesetzt. Das waren Anträge der Piraten. Der Einsatz von Pfefferspray wird beschränkt, das war ein Antrag von Linken und Piraten; es gibt eine Kennzeichnung für private Sicherheitsdienste, wenn sie mit Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt kommen. War auch ein Antrag der Piraten. Lauter solche Sachen. Find ich geil, dass das jetzt übernommen wird.
Was halten Sie vom Rest des Koalitionsvertrags?
Ganz habe ich ihn noch nicht gelesen. Aber wenn das andere genauso aussieht wie der Teil zu Inneres, wird man damit eine progressivere, nach vorne gerichtete Politik machen können.
Glauben Sie, dass die SPD das auch umsetzt? In den letzten fünf Jahren war sie nicht gerade die Lieferpartei.
Da war sie auch nicht für die Innenverwaltung verantwortlich. Aber wenn ich das Gefühl habe, es werden Dinge nicht umgesetzt, werde ich darauf einwirken, dass das passiert. Das ist auch mit meiner Glaubwürdigkeit als Innenpolitiker verbunden. Ich möchte nicht mit Häme überschüttet werden nach dem Motto: „Lauer, jetzt habt ihr da so einen schönen progressiven Koalitionsvertrag, und was setzt ihr um?“
Ihre hundertprozentige Identifikation mit der SPD erstaunt uns doch etwas …
Klar, es wäre unglaubwürdig, wenn ich jetzt sagen würde, in meinem Herzen war ich schon immer Sozialdemokrat. Oder dass mir Willy Brandt im Traum erschien und sagte, dass ich jetzt zur SPD wechseln muss.
Vielleicht war’s auch Michael Müller.
Vielleicht auch Michael Müller. Oder Regine Hildebrandt. Der Punkt ist einfach der: Ich möchte zeitgemäße Politik machen. Die SPD halte ich für eine gute Plattform dafür. Außerdem öffnet mir die Mitgliedschaft dort viele Möglichkeiten, politisch Einfluss zu nehmen.
Sie studieren ja noch. Was war das gleich?
Ich beende hoffentlich dieses Semester mein Studium der Kultur und Technik mit Schwerpunkt Wissenschaft- und Technikgeschichte. An der TU. Bis März kriege ich Übergangsgeld, danach muss ich mal gucken, wie die Kohle reinkommt. Gerade bin ich dabei, ein Buch zum Thema Politikverdrossenheit fertig zu machen. Außerdem mache ich noch meinen Podcast: Lauer informiert.
Wie würden Sie Ihren Beruf bezeichnen?
Politiker? Mensch? Ich mache Dinge. Ich bin ein Kind meiner Zeit. In der Schule bekamen wir erzählt, dass es für meine Generation normal sein muss, den Job oft zu wechseln. Dass unsere Generation flexibel sein muss.
Gibt es einen Privatmann Lauer?
Ja klar. Aber mein Rollenverständnis ist stark.
Was heißt das?
Wenn ich vor die Tür gehe, bin ich ein Politiker. Zu Hause, wo Sie nicht mitkriegen, was ich tue, kann ich tatsächlich privat sein. Diese Trennung hilft mir, meinen Alltag zu bewältigen.
In welcher Rolle sind Sie jetzt gerade?
Ein Politiker, der eine menschliche Seite von sich präsentiert. Aber es ist auch nicht so, dass der private Christopher Lauer ein komplett anderer ist – so Dr Jekyll und Mr Hyde. Der größte Scheiß heute ist doch der Gedanke, dass alles authentisch sein muss. Dass Authentizität ein wie auch immer gearteter Wert an und für sich ist.
Warum?
Der Mensch muss so viele Rollen übernehmen: Sohn, Ehemann, Vater, Geschwister, Mitarbeiter, Angestellter …
Was heißt das für Sie?
Schauen Sie, ich baue zu Hause gerne Warhammer-Figürchen zusammen und twittere davon Fotos; ich spiele gerne Ballerspiele auf der XBox. Gleichzeitig setzte ich mich als Politiker für eine Gewaltschutzambulanz ein. Wie wollen Sie das zusammenbringen? Auf solche Diskussionen habe ich überhaupt keinen Bock.
Aber Sie haben auch kein Problem, mit Figuren Krieg zu spielen.
Nein. Das sind Facetten. Aber ich überlege genau, worüber ich rede.
Warum halten Sie an diesen Rollen fest?
Es geht um Realitätsbewältigung, darum, dass ich nicht komplett wahnsinnig werde.
Sie weichen die Rollen doch selbst auf!
Man muss die Rollen auch nicht durchhalten. Sie helfen mir, dass ich mich nicht im Kern getroffen fühle, wenn ich zu Hause sitze und beleidigende Tweets lese. Ich weiß dann, die Leute arbeiten sich an der Projektionsfläche Christopher Lauer, dem Politiker, ab.
Sie twittern nicht zurück?
Ich blocke das weg. Ich merke gerade, wie mir im aufkommenden Bundestagswahlkampf ganz viele Ei-Accounts [Accounts ohne Bilder, sondern mit der Standard-Twitter-Anzeige, d. Red.] folgen – wahrscheinlich irgendwelche russischen Internettrolle, die dafür bezahlt werden. Es macht keinen Sinn, mit denen zu diskutieren.
Was soll das dann alles?
Es geht um die Frage, ob du in der Lage bist, deine Rolle, die du hast, so durchzuspielen, dass nicht nur du sagst, du hast die Rolle des Politikers, des Regierenden Bürgermeisters, der Bundeskanzlerin, sondern dass auch andere sagen: Ah, das ist die Bundeskanzlerin.
Es geht um Glaubwürdigkeit?
Ja, das passt. Glaubwürdigkeit in der Rolle.
Zurück zu Rot-Rot-Grün in Berlin: Ist diese Koalition glaubwürdig?
Alle wissen, dass jetzt verstärkt auf Berlin geschaut und gefragt wird, ob Rot-Rot-Grün ein tragfähiges Modell für den Bund sein kann. Wenn SPD, Linke und Grüne in Berlin einen Politikwechsel im Bund wollen, dann tun sie gut daran, jetzt geil abzuliefern.
Was meinen Sie damit?
Dass man in den ersten 100 Tagen zeigt, dass man ordentlich zusammenarbeitet, dass man sich nicht wegen jedem Scheiß in die Haare kriegt und dass man nicht über jedes Stöckchen springt, das die Konservativen hinhalten. Da neigen alle linken Parteien immer zur Rechtfertigung und zum Alles-erklären-Müssen. Und die Berliner müssen merken, dass die Koalition die Probleme ernst nimmt und angeht.
Die Berliner SPD hat damit offenbar ein Problem. In der letzten Umfrage ist sie noch hinter das schlechte Wahlergebnis vom 18. September zurückgefallen.
Wenn sich die SPD auf den Hosenboden setzt und ihr Profil überdenkt, halte ich auch 40 Prozent wieder für möglich. Olaf Scholz zeigt das in Hamburg.
Wie soll das gehen?
Derzeit findet eine neue technologische Revolution statt. Es entsteht eine relevante Gruppe von Menschen mit einer total zerschossenen Erwerbsbiografie. Sascha Lobo sprach mal vom digitalen Bohemian, ich würde eher von digitalem Lumpenproletariat sprechen. Und genauso wie der Industriearbeiter gegenüber dem Industriellen keine Rechte hatte, haben diese Leute heute gegenüber den Internetplattformen keine Rechte mehr. Überall in der Gesellschaft nisten sich Start-ups parasitär ein: Lieferdienste wie Foodora agieren als Middle-Man und beuten ihre Mitarbeiter aus.
Was folgt daraus für die SPD?
Sie muss sich fragen, ob sie sich zum Anwalt dieser Ausgebeuteten und Abhängigen machen will. Das ist der SPD ja schon einmal ganz gut gelungen.
Was wäre eine Lösung?
Dieser ganze Internetkrempel wie Facebook und Airbnb, der unser Leben massiv beeinflusst, muss ordnungspolitisch eingepfercht werden. Wir müssen dort neue Checks and Balances schaffen.
Hat die Politik diese Macht überhaupt noch?
Natürlich, sie muss sie sich nur nehmen. Laut Verfassung kann man fast alles machen. Im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung zeigt sich immer wieder sehr schön, dass die Politik keine Hemmungen hat, verfassungswidrige Gesetze zu machen.
Sie rufen zum Verfassungsbruch auf?
Nö. Ich habe nur skizziert, was man so machen kann. Nötig wäre zum Beispiel auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wie man das genau nennt, wie es organisiert ist, wird man sehen.
Mit dieser Forderung wären Sie bei einer anderen Partei besser aufgehoben gewesen.
Das ist mir vollkommen egal.
Bei der SPD hat das Thema aber keine Priorität.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Es kann natürlich sein, dass ich mit solchen Forderungen in der SPD krachend scheitere. Aber das wäre ja auch eine Aussage über diese Partei. Bisher hat mir noch niemand ein besseres Konzept zur sozialen Sicherung im 21. Jahrhundert präsentieren können. Alles andere basiert auf Repression und einem Menschenbild, dass Menschen faul sind und nicht arbeiten wollen.
Mit den Grünen oder Linken können Sie nicht warm werden. Woran liegt das?
Ich finde es sinnvoll, dass es diese beiden Parteien, dass es eine Konkurrenz der Ideen gibt. Aber was die Grünen angeht: Das ist für mich eher eine religiöse Vereinigung.
Bitte?
Die Grünen sind dem Katholizismus sehr ähnlich. Ich bin ja katholisch. Da sündigst du, gehst zur Beichte, und dir wird gesagt: Bete einen Rosenkranz, dann sind dir alle Sünden vergeben. Du fährst SUV, wohnst in einer Gated Community in Berlin-Mitte und fliegst – pflegst also einen Lebensstil, der nicht vereinbar ist mit dem Kampf gegen Umweltzerstörung und globale Erwärmung –, und dann wählst du eben bündnisgrün, weil die ja was für die Umwelt tun.
Und die Linke?
Ich will nicht in einer Partei sein mit einem trotzkistischen und einem leninistischen Flügel, die das auch noch ernst meint.
Wo sind Sie in drei Jahren?
Ach, I don’t know. In Island oder weiter in der Politik. Das ist nicht planbar. Die SPD-Genossinnen und Genossen werden mich jetzt eher nicht für den Bundestag aufstellen oder das Europaparlament. Ich muss erst mal fünf Jahre Basisarbeit leisten und kriege dann mit Glück einen Wahlkreis zur Abgeordnetenhauswahl, der auf der Kippe steht. So ist das eben – so gern ich vielleicht für den Bundestag aufgestellt werden würde. Wie Sie wissen, traue ich mir bis zum Präsidenten der intergalaktischen UNO jedes politische Amt zu …
… an Selbstbewusstsein hat es Ihnen nie gemangelt. Schmerzt es da nicht, in der Berliner Landespolitik nicht mehr zu den Hauptdarstellern zu gehören?
Ich mische doch mit! Andererseits habe ich in den letzten fünf Jahren gelernt, dass ich Glück, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit nur aus mir selbst heraus erlangen kann. Das von der Berichterstattung der Medien abhängig zu machen ist wie eine schlechte Droge. Da kommst du immer mehr drauf und brauchst den nächsten Schuss.
Wie kommt es bei einem Twitter-Junkie zu so einem Sinneswandel?
Seit dem Sieg von Donald Trump in den USA – der eigentlich nicht gewonnen hat, weil Hillary Clinton zwei Millionen Stimmen mehr bekam –, halte ich alles für möglich.
Was meinen Sie damit?
Dass in Deutschland die AfD an die Macht kommt und ich flüchten muss. Dass die Russen aus irgendeinem Grund hier einmarschieren. Aber solche finsteren Szenarien haben auf mich auch eine revitalisierende Wirkung.
Wie sieht das aus?
Ich gehe deutlich bewusster an mein Leben heran. Und es motiviert mich noch mehr, Politik zu machen, denn ich sage mir: Wenn alles möglich ist, sind wir unseres eigenen Glückes Schmied. Als Sozialdemokraten müssen wir daran arbeiten, dass wir und andere in einer besseren Welt leben – so naiv das klingt.
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