Christliches Jugendtreffen in Rom: „Kritik wird eher stumm gemacht“
Neue Geistliche Gemeinschaften feiern ein Comeback, trotz eklatanter Missbrauchsfälle. Die Theologin Hildegund Keul warnt vor „Freudenzwang“.
taz: Frau Keul, am katholischen Weltjugendtag, der kürzlich in Lissabon stattfand, waren die sogenannten Neuen Geistlichen Gemeinschaften (NGG) sehr präsent, ab Freitag treffen sich viele dieser Gruppen zu einer „Versammlung des Volkes Gottes“ mit Papst Franziskus in Rom. Erleben die NGG gerade eine Renaissance?
Professorin für katholische Theologie an der Uni Würzburg, Leiterin des DFG-Forschungsprojekts „Verwundbarkeiten“. Keul hat das Buch „Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften“ (Herder, 2023) der französischen Journalistin Céline Hoyeau auf Deutsch herausgegeben. Darin geht es um die systemischen Ursachen hinter Fällen von spirituellem und sexuellem Missbrauch in den NGG, die in Frankreich eine besonders prominente Rolle spielen.
Hildegund Keul: Die charismatische Bewegung ist zwar nicht mehr so stark wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Damals hat sie sich mit großem Enthusiasmus auf die Fahnen geschrieben: Wir retten die Kirche. Der Weltjugendtag war schon immer geprägt von NGG, auch wegen Papst Johannes Paul II, der sie legitimierte und sehr förderte. Meine Befürchtung ist, dass einige deutsche Bistümer neu auf sie setzen, obwohl die NGG in Frankreich wegen Missbrauch und Vertuschungsgewalt furchtbar gescheitert sind. Man setzt auf die gescheiterten Rezepte und will die alte Begeisterung neu wecken ohne hinzugucken: Was ist das Problem an dieser Begeisterung?
Was ist denn das Problem?
Es gibt eine wissenschaftliche Kriteriologie dafür, wann eine Gemeinschaft quasi gefährdet ist für spirituellen Missbrauch und anschließend unter Umständen auch für sexuellen Missbrauch. Ich fand das anfangs überraschend, aber ein wichtigeres Kriterium ist: Die Gemeinschaft strahlt Freude aus. Dieser Überschwang und Enthusiasmus: Wir schaffen das jetzt, wir wuppen das, wir kriegen das hin. Ich nenne das „Freudenzwang“. Also man muss sich immer freuen, die Menschen in der geistlichen Gemeinschaft sind in der Eigenlogik schlichtweg erwählt und das soll man denen auch ansehen.
Parallel zur Vollversammlung der katholischen Bischöfe wird es vom 19. September bis 1. Oktober 2023 in Rom eine von der Taizé-Gemeinschaft organisierte „Versammlung des Volkes Gottes“ geben. Junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren aus ganz Europa und allen Kirchen sind eingeladen. Eine Reihe von Neuen Geistlichen Gemeinschaften veranstaltet das Event mit.
Wozu sind sie erwählt?
Problematisch ist das Elitäre: Wir sind besser als die Anderen. Ich nenne das „spirituelles Othering“. Die Anderen werden dann zu „Weltmenschen“, während man sich selbst für die richtigen, radikalen, ernsthaften Christen hält. Das ist gefährlich. Nach außen entsteht eine Isolation und nach innen Konkurrenz. Wer richtig dazugehören will, muss immer mehr Opfer bringen, um dem Erwählungsglauben gerecht zu werden. Sehr viel arbeiten, sehr viel Geld spenden, sexuelle Übergriffe ertragen – Sex, Macht, Geld. Menschen werden extrem opferbereit, wenn es um ihre Erwählung geht. Den Kern des Problems sehe ich darin, dass die charismatische Bewegung überhaupt nicht sieht, dass Spiritualität selbst eine gefährliche Größe ist.
Spiritualität soll eine gefährliche Größe sein?
Neue Geistliche Gemeinschaften (Integrierte Gemeinde, Chemin Neuf, Emmanuel, L'Arche, Johannesgemeinschaft etc.) sind in der römisch-katholischen Kirche insbesondere nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) entstanden und streben ein intensives Glaubensleben und die Erneuerung des Glaubens in der Kirche an. Es gibt große Unterschiede im Organisationsgrad, von überwiegend ideeller Gemeinschaft ohne formale Strukturen bis hin zu Ordensgemeinschaften. Als Vorläufer gelten die Schönstattbewegung (gegründet 1914) und Legio Mariae (1921).
Spiritualität kann auch ganz grandios sein. Spiritualität kann Menschen die Intensität von Leben erschließen. Sie kann Menschen wirklich helfen, mit ihren Verwundungen zu leben und Schicksalsschläge besser durchzustehen. Spiritualität kann aber auch sehr destruktiv sein. Und diese Gefahr, die muss man einfach kennen und anerkennen. Man muss sehen, dass es eine Gefahr ist, und mit der muss man rechnen. Und zwar auch die Gefahr der eigenen Spiritualität, nicht nur die der anderen.
Die „Versammlung des Volkes Gottes“ in Rom wird von der Taizé-Gemeinschaft organisiert. Einige würden sagen, Taizé gehört gar nicht zu den NGG im engeren Sinn …
Taizé ist keine klassische NGG, gehört aber zur charismatischen Bewegung. Da die jungen Menschen meist nicht vor Ort bleiben, sondern in ihre Gemeinden zurückgehen, haben sie ein etwas anderes Konzept. Sie praktizieren eine große Offenheit und leben ökumenisch orientiert. Ich persönlich finde auch einige Lieder von Taizé großartig. Trotzdem lauert auch hier die Gefahr, die spirituelle Begeisterung auslöst. Auch in Taizé gibt es Fälle sexueller Gewalt. Ein Gefahrenfeld sind neben der Schwesterngemeinschaft die Freiwilligen, die vor Ort mitarbeiten, die sich eine besondere Gottesnähe erhoffen und ihrem Leben einen neuen Sinn geben wollen. Die leuchtenden Augen sind auch ein Charakteristikum von Taizé.
Aber haben Taizé und die NGG nicht Fortschritte gemacht, seitdem die Gewalt in den eigenen Reihen bekannt wurde?
Wenn ich das richtig sehe, dann sind die Präventionsmaßnahmen oft interne Schulungen mit problematischen Konzepten wie „gesunde Spiritualität“. Die meisten Gemeinschaften beschreiben auf ihren Webseiten nicht, dass ihre eigene Spiritualität unter Umständen eine Gefahr für Menschen sein kann. Und ich glaube, das ist der Erkenntnisfortschritt, den die eigentlich machen müssen. Und solange sie sich dem verweigern, bleibt es problematisch. Eine der Gemeinschaften schreibt auf ihrer Webseite: Das Reich Gottes ist bei uns gegenwärtig. Das ist doch irre, mit diesem Anspruch aufzutreten: Wer hier Kritik übt, ist von vornherein falsch – denn schließlich ist hier das Reich Gottes gegenwärtig.
Wie wird die Zukunft der kirchlichen Jugendarbeit aussehen?
Ich hoffe, dass die Bistümer nicht einfach auf die charismatische Bewegung setzen und sagen: die sollen das jetzt mal richten. Das ist leider eine Tendenz. Kürzlich habe ich von Firmvorbereitungen gehört, bei denen nichts mehr läuft ohne die charismatische Bewegung. Die FOCUS-Missionare, die ich persönlich für hoch problematisch halte, greifen auf die Hochschulpastoral zu und sind bereits in Düsseldorf und Passau verortet. In Frankreich spricht man vom „Sturz der Sterne“, weil so viele Gründer von NGG als Missbrauchstäter und Vertuscher enttarnt wurden. In Frankreich ist die Aufarbeitung 10 Jahre weiter als in Deutschland. Wenn man diesen „Sturz der Sterne“ ernstnehmen würde, könnte man sich in Deutschland viel ersparen.
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