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Cholera-Experte über die Not in Haiti"Die Bevölkerung hat keine Immunität"

Die Menschen in Haiti brauchen in erster Linie Zugang zu sauberem Trinkwasser und ein orales Serum: Das fordert Haitis führender Cholera-Experte Jean William Pape.

Sauberes Wasser ist in der aktuellen Situation in Haiti wichtig - und selten. Bild: thomas lohnes/diakonie/dapd
Dorothea Hahn
Interview von Dorothea Hahn

taz: Herr Pape, für Haiti hat das Jahr 2010 mit dem schwersten Erdbeben seiner Geschichte begonnen. Jetzt geht es mit einer Cholera-Epidemie zu Ende. Gibt es einen Zusammenhang?

Jean William Pape: Der Ausbruch der Cholera hat nichts mit dem Erdbeben zu tun. Für einen solchen Ausbruch muss sie jemand hergebracht haben. Als 1991 die Cholera Südamerika erreichte, war ich überzeugt, dass sie auch nach Haiti kommt. Ich habe mich damals viel mit Durchfall bei Kindern beschäftigt. Und wir haben unsere kleinen Patienten systematisch auf Cholera getestet. Aber wir haben nie etwas gefunden. Wir hatten damals einfach sehr, sehr viel Glück.

Warum breitet sich die Cholera jetzt so schnell in Haiti aus?

Einerseits ist das Territorium nicht groß, und durch das Erdbeben ist die Mobilität der Bevölkerung enorm gestiegen. Das sorgt für eine schnellere Verbreitung. Andererseits besitzt die haitianische Bevölkerung nicht die geringste Immunität gegen die Cholera. Meine Forschungen bestätigen, dass es Cholera hier nie zuvor gegeben hat. Anfang des 19. Jahrhunderts sind auf Jamaika 25.000 Personen an Cholera gestorben. Doch die Krankheit kam nicht auf die Insel Saint-Domingue, auf der sich heute Haiti und die Dominikanische Republik befinden.

Wie erklären Sie, dass die Cholera Haiti im 19. Jahrhundert verschont hat?

Haiti war damals international total isoliert. Hier war die Sklaverei abgeschafft worden, während sie anderswo weiter existierte. Dies führte zu allen möglichen Schwierigkeiten: Zum Beispiel ging die Industrielle Revolution an Haiti vorbei. Aber was die Verbreitung von Krankheiten betrifft, war diese Isolation eine gute Sache. Wenn Sie einen neuen Keim in eine Bevölkerung bringen, die nie zuvor Kontakt mit diesem Keim hatte, kann das nämlich zu schrecklichen Verwüstungen führen. Wie bei der indianischen Bevölkerung dieser Insel. Sie wurde binnen weniger Jahre komplett vom Gelbfieber hingerafft.

Der zweite Grund ist, dass die haitianischen Präsidenten des 19. Jahrhunderts große Angst vor der Cholera hatten. Immer wenn es Gerüchte über eine Cholera-Epidemie in der Region gab, verboten sie ausländischen Booten das Anlegen in den Häfen. Auf diese Weise hielten sie auch die Pest fern. Sie wird durch Ratten übertragen. Und die können im Bauch von Schiffen reisen.

Würde die Cholera anderswo weniger hart verlaufen?

Ja. In Südostasien zum Beispiel - in Indien, Pakistan, Bangladesch -, wo die Cholera jahrhundertelang endemisch war.

US-Experten prognostizieren, dass in Haiti 400.000 Menschen an Cholera erkranken werden. Wie sehen Sie das?

Die Krankheit hat sich über das ganze Land ausgebreitet. Und es gibt in jedem Département mindestens ein paar Fälle. Aber niemand kann genau sagen, wie viele Personen angesteckt wurden. denn wenn man über Cholera-Fälle berichtet, handelt es sich nur um dokumentierte Fälle.

Aber bei Cholera zeigen 75 Prozente der Betroffenen gar keine Symptome. Nur 5 Prozent bekommen schweren Durchfall, der sehr schnell zum Verlust von zwei bis drei Litern Wasser und zum Tod durch Austrocknung führen kann. Auf 25 Individuen, die ins Krankenhaus gehen, kommen 75, die es nicht tun. Ihnen geht es mehr oder weniger gut. Trotzdem können sie ihre Umgebung anstecken und die Krankheit weiter verbreiten.

Woher stammen die Keime, die jetzt in Haiti grassieren?

Irgend jemand hat sie von außerhalb ins Land mitgebracht. Ein Haitianer oder ein Ausländer. Man hat nepalesische Blauhelmsoldaten beschuldigt. Und unter epidemiologischen Aspekten ist das plausibel. Aber es gibt keine Belege dafür. Auf die Nepalesen verweist der Ort, an dem die Epidemie begonnen hat: an einem Zufluss des Artibonite im Norden des Landes. Um es genau zu wissen, hätte man den infektiösen Keim im Stuhl der Leute nachweisen müssen.

Ist das nicht geschehen?

Ich habe den größten Respekt für Edmond Mulet.

Der seit 2004 Chef der UN-Stabilisierungsmission in Haiti ist.

Er hat uns von den Gangs befreit. Er hat sehr viel Mut. Und ich halte ihn für ehrlich. Ich glaube, er hätte es gesagt, wenn man das bei seinen Soldaten gefunden hätte. Aber es ist durchaus möglich, dass man nichts gefunden hat. Denn die Vibrio-Bakterie zeigt sich nur rund zwei Wochen lang. Danach sind sehr viel kompliziertere Studien nötig, um nachzuweisen, dass es sich um denselben Stamm handelt. Sicher ist, dass das CDC, das Center for Disease Control, 14 Stämme isoliert hat. Die Studien zeigen, dass die 14 identisch sind. Was bedeutet, dass es sich wahrscheinlich um ein und dieselbe Quelle handelt. Mehr kann man im Augenblick nicht sagen.

Ist es sinnvoll, Wahlen während einer Cholera-Epidemie abzuhalten?

Die Wahlen sind eine Ablenkung. In einem Land mit extrem knappen Mitteln wäre es meines Erachtens richtig gewesen, den Ausnahmezustand zu dekretieren. Mit dem Hauptziel, sauberes Trinkwasser für 9 Millionen Haitianer zu beschaffen.

Eine Mammutaufgabe.

Das ist gar nicht so schwierig. Wir betreuen den Slum gegenüber von unserem Institut: Der Slum "Village de Dieu" hat 200.000 Bewohner und 48 Stellen, an denen Wasser verkauft wird. Unsere Leute gehen da jeden Morgen hin und testen das Wasser, das in privaten Lastern und vom Staat ankommt. Außerdem geben wir selbst Wasser aus. Die zweite Priorität ist es, orales Serum zu verteilen. Damit können 99 Prozent der Leute, die Cholera bekommen, behandelt werden.

Was ist orales Serum?

Ich habe es aus Bangladesch mit nach Haiti gebracht. Es ist eine Trinklösung aus Zucker, Salz und Natrium mit Wasser. Man kann sie selbst zubereiten. Und sie kann Leben retten. Als wir hier 1980 mit dem Institut angefangen haben, hatten wir mehr als 40 Prozent Sterblichkeit bei Kindern mit Durchfallkrankheiten. Von 100 Kindern, die mir gebracht wurden, sind 40 gestorben. Mit dem Serum haben wir die Mortalität in eineinhalb Jahren auf weniger als 1 Prozent senken können

War die Reaktion der Regierung auf die Cholera-Epidemie angemessen?

Ich glaube, angesichts der haitianischen Realität hat die Regierung das Maximum getan. Sie hat sofort das CDC eingeschaltet. Und das Labor hat sehr schnell den Keim isoliert. Nach 48 Stunden war klar, dass es Cholera war. Aber dort, wo die Cholera in Haiti angefangen hat, gibt es kaum medizinische Strukturen. Wäre es in Port-au-Prince passiert, hätte es zwar mehr Cholera-Fälle gegeben, aber weniger Tote. Es handelt sich um eine abgelegene Zone, wo die Leute nur schwer zu erreichen sind und wo es nur wenig Gesundheitsdienste gibt. Aber das ist nichts Neues. In anderen Ländern, wo die Cholera zum ersten Mal auftauchte, war es dasselbe. Zum Beispiel in Frankreich und in Italien im 19. Jahrhundert.

Sie vergleichen die sanitäre Situation in Haiti heute mit der von Frankreich und Italien im 19. Jahrhundert?

Ein kleiner Teil der Bevölkerung Haitis - vielleicht 4 oder 7 Prozent - hat ein sanitäres Niveau wie in den reichsten Ländern Europas und in den USA. Die Mehrheit hingegen verfügt weder über Toiletten noch über Trinkwasser - wie in Europa im 19. Jahrhundert. Und das ist der Grund, weshalb Sie damals überall Cholera-Epidemien hatten. Deswegen ist es auch so, dass Afrika, wo die Cholera 1971 anlangte, heute 80 Prozent aller Cholera-Fälle weltweit hat.

Wie lange wird die Cholera in Haiti akut sein?

Die letzte Cholera-Epidemie in Belgien und Frankreich hat von 1863 bis 1876 gedauert: 13 Jahre. Die darauf folgende Cholera dauerte 24 Jahre. Und die jetzige Cholera tauchte erstmals 1971 in Indonesien auf, dann in Bangladesch, im Jahr 1965 hat sie Europa ein bisschen berührt, dann gelangte sie 1971 nach Afrika und 1991 nach Südamerika. Jetzt ist sie in Haiti. Sie ist 49 Jahre alt. Damit sie wieder verschwindet, müssen wir unsere Gewohnheiten ändern.

Verschiedene Dinge spielen gegen uns: die schlechten sanitären Bedingungen; die Tatsache, dass es sich um eine Bakterie handelt, die gut im aquatischen Milieu lebt; dass wir oft Zyklone haben, bei denen Wasser von Fäkalmaterien mit Trinkwasser vermischt wird; und die hohe Mobilität der Leute. Es ist klar, dass wir mehrere kleine Epidemien haben werden. Aber wir werden auf diese Weise auch Immunität bekommen. Und das Gedächtnis der Cholera. Das ist eine gute Sache.

Und wie lange bleibt die Cholera an einem Ort?

Nach Afrika ist sie 1971 gekommen und seither nicht wieder verschwunden. Südamerika erreichte sie 1991 und im Jahr 2009 gab es immer noch fünf Fälle in Paraguay. Das Problem ist, dass es sich um eine Bakterie handelt, für die der Mensch das Reservoir ist. Und die auch sehr gut im feuchten Milieu überleben kann. In der Mehrheit der Fälle sind die Leute durch Wasser angesteckt worden. Es gibt keinen einzigen nachgewiesenen Fall, in dem eine infizierte Person eine andere angesteckt hat.

Welche Krankheit droht Haiti als nächste?

Ich mache mir Sorgen wegen der Tuberkulose. Die Situation in den Zelten begünstigt ihre Übertragung. Im Inneren der Zelte leben verschiedene Familien. Auch eine Typhus-Epidemie ist jederzeit möglich. Typhus überträgt sich wie Cholera. Und das einzige Reservoir ist der Mensch.

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