Chinesischer Messenger WeChat: Milch, Mails und bloß keine Kritik

Statt Facebook oder WhatsApp nutzen Chinesen mit WeChat ihren eigenen Messenger. Der Dienst macht vieles einfacher – auch die Zensur.

Ein Postkasten steht auf einer Rasenfläche

Das waren noch Zeiten … Foto: ap

PEKING taz | Yu Cong kommt in die Küche und hat Momo mitgebracht, einen rosafarbenen, etwas pummelig geratener Plüschdrachen. Stolz stellt die Fünfjährige ihn auf den Küchentisch und führt seine Funktionen vor. Wenn sie ihm auf den flauschigen Bauch drückt, leuchtet er grün auf und sie kann in das eingebaute Mikrofon eine kurze Nachricht sprechen. Je nachdem, auf welches Körperteil sie gedrückt hat, geht die Nachricht entweder an Mama, Papa, Oma, Opa auf der väterlichen Seite oder Oma, Opa mütterlicherseits. Und wenn einer von ihnen Yu Cong eine Sprachnachricht zurückschickt, leuchtet der Bauch ebenfalls auf und spielt das Gesprochene ab.

Momo ist in China derzeit der Renner unter Kindern im Vorschulalter. Da die meisten von ihnen selbst noch kein Smartphone bedienen können, hat das chinesische Internetunternehmen Tencent dieses Stofftier auf den Markt gebracht – damit auch Kinder in den Genuss von WeChat kommen können, Chinas am weitesten verbreiteter Messengerdienst.

Facebook? Ist vielen Chinesen zwar ein Begriff, ist aber gesperrt. Twitter? Ebenso. Und auch YouTube, Snapchat, Instagram und die meisten Google-Dienste sind in China mit seiner strengen Internetregulierung nur schwer oder gar nicht abrufbar. WhatsApp funktioniert im Reich der Mitte zwar, hat sich aber kaum durchgesetzt.

Denn digitale Wüste herrscht in der Volksrepublik nicht. Im Gegenteil: Mit über 800 Millionen Nutzern ist China die größte Internetnation der Welt. Und auch auf soziale Netzwerke muss kein Chinese verzichten. Denn sie haben ihre eigenen Dienste. Und diese sind nicht nur bunter und spielerischer als ihre in Europa geläufigen Pendants. Die chinesischen Varianten sind auch sehr viel praktischer und vielseitiger.

Allen voran der chinesische Messengerdienst Weixin, im Ausland auch bekannt als WeChat, hat es binnen weniger Jahre zur meist genutzten Onlineplattformen der Welt geschafft. Und das in einem Land, in dem das Internet unter der Fuchtel der Zensur steht. Nach Angaben des WeChat-Betreibers Tencent haben sich inzwischen über 900 Millionen zur Nutzung angemeldet. Das sind mehr Nutzer als WhatsApp zählt. Diese hohe Zahl geht freilich auf den großen Nutzerkreis im eigenen Land zurück. Doch auch im Ausland findet WeChat immer mehr Anhänger. Oder es gibt Apps wie Line in Japan oder KakaoTalk in Südkorea mit Funktionen, die denen des chinesischen Dienstes verdächtig ähnlich sind.

Für die frische Sojamilch am Morgen

Was WeChat unter anderem ausmacht: Mit dem chinesischen Dienst lässt sich sehr viel einfacher Kontakt knüpfen als mit den meisten Messenger-Apps aus dem Westen. Mit der Flaschenpostfunktion etwa wird per Zufallsgenerator eine Kontaktanfrage an Unbekannt verschickt. Mit der Schüttelfunktion zeigt das Smartphone an, wer in unmittelbarer Nähe an neuen Kontakten interessiert ist. Auch der Kontaktaustausch ist simpel: Jeder Nutzer besitzt einen eigenen QR-Code. Der muss von dem anderen mit Kurzem draufhalten nur eingescannt werden. Schon sind die Kontaktdaten ausgetauscht. Der Chat kann beginnen.

Great Firewall:In Anlehnung an die Chinesische Mauer häufig verwendeter Begriff. ­Betrifft Google, Facebook, Twitter wie Webseiten von Medien.

Automatischer Filter:Einträge in Foren mit bestimmten Begriffen, etwa der Bewegung Falun Gong, werden automatisch gelöscht. Die Liste verbotener Worte ist geheim und ändert sich ständig.

Manuelles Filtern:Zusätzlich werden Regierungsmitarbeiter damit beauftragt, Einträge im Netz von Hand zu löschen. Es soll bis zu 50.000 Internetpolizisten geben.

Umgehung von Zensur:Interessiert die meisten Chinesen nicht, sie fühlen sich von den staatlichen Medien versorgt. Nur rund 25 Prozent versuchen, die Zensur mit in sich geschlossenen Kommunikationsnetzen (VPN) zu umgehen.

Bei WeChat handelt es sich aber schon lange nicht mehr bloß um einen Messengerdienst. Nicht nur, dass es Voice-Over-IP-Telefonie, Videogespräche und Gruppenchats bei WeChat schon gab, als WhatsApp noch ganz allein für das Versenden von schriftlich verfassten Kurznachrichten gut war. WeChat ist das allumfassende Werkzeug für so ziemlich alle Alltagslagen.

Das fängt schon am frühen Morgen an. Yu Congs Mutter Li Hua erzählt, dass sie schon vor dem Aufstehen zu ihrem Smartphone greift. Gar nicht so sehr, um sich die vielen Kurznachrichten anzuschauen, die sie seit dem Schlafengehen von ihren Freunden und Kollegen zugestellt bekommen hat, betont sie. Sie bestelle das Frühstück über WeChat. Mit einem speziellen Bringdienst in der Nachbarschaft ist sie vernetzt. „So frische Sojamilch wie der ihn zubereitet und vorbeibringt, schaffe ich am frühen Morgen nicht zuzubereiten“, sagt Li.

Sie betätigt ihren Onlineeinkauf über WeChat, bucht Zug- oder Flugtickets, Kinokarten, bestellt Taxis und andere Fahrtdienste und begleicht über WeChat sogar die Arztrechnung ihrer kranken Mutter. Abgewickelt werden die Geschäften über den eigenen Zahlungsdienstleister Tenpay. Einige Restaurants würden gar keine anderen Zahlungsmittel mehr akzepetieren, sagt Liu Hua. Statt einer Kasse mit Geld ist auf einer kleinen Tafel nur noch ein QR-Code abgebildet, den der Konsument mit seinem Smartphone bloß scannen muss. Schon ist bezahlt.

Und während Li mit ihrer Familie am Küchentisch sitzt und erzählt, überweist sie nebenher der Ayi, dem Kindermädchen, 20 Yuan auf deren WeChat-Konto. Sie soll auf dem Weg Waschmittel und Toilettenpapier mitbringen. Im Bus auf dem Weg zur Arbeit würde sie dann in der Regel die eingegangenen Kurznachrichten beantworten, sagt Li Hua. E-Mails benutze sie wie die meisten ihrer Freundinnen und Kollegen schon lange nicht mehr. „WeChat hat vollständig diese Funktion übernommen“, sagt Li. „Ist einfacher.“

WeChat wird zu einem dunklen Loch

Doch China ist auch bekannt dafür, den Zugriff auf das Internet stark zu kontrollieren, Inhalte werden zensiert. Erst Anfang November hat der chinesische Volkskongress ein umstrittenes Gesetz zur Verschärfung der Cybersicherheit verabschiedet. Damit solle laut staatlichen Medienberichten besser auf Gefahren wie Hackerangriffe oder Internetterrorismus reagiert und „die Ordnung und Sicherheit des Cyberraums“ gesichert werden. Menschenrechtsgruppen sehen darin jedoch eine weitere Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit und einen erneuten Zuwachs der staatlichen Kontrolle über das Netz.

Natürlich ist auch WeChat von dieser Kontrolle betroffen. Forscher von Citizen Lab an der Universität von Toronto haben herausgefunden, dass WeChat gezielt Einträge nach politisch heiklen Schlüsselwörtern filtert und bevorzugt Gruppenchats zensiert. Immer wieder würden Mitteilungen einfach heimlich gelöscht. Die Forscher hatten 26.821 sensitive Schlüsselwörter über WeChat versendet. 174 davon lösten die Zensur aus. Es ging meist um die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989, die prodemokratischen Proteste in Hongkong, die in China verbotene spirituelle Bewegung Falun Gong oder Motive mit Witzen oder Kritik an chinesischen Führern.

Ronald Deibert, Direktor von Citizen Lab, spricht von einem „dunklen Loch“, in das WeChat rutsche, da es seinen Nutzern nicht einmal mehr Rechenschaft über die ausgeübte Zensur leiste.

Selbst die rund 50 Millionen im Ausland lebenden Chinesen sind von der Zensur betroffen. Die Filter würden für Kunden aktiv bleiben, die sich mit einer chinesischen Handynummer registriert hätten, selbst wenn sie später ausländische Nummern benutzen, berichtet Deibert. „Die Zensur folgt ihnen.“

Sie blieben unter Überwachung, egal wo sie hingingen. „Diese exterritoriale Informationskontrolle ist ziemlich einzigartig und schafft einen verstörenden Präzedenzfall.“

Li Hua halten diese düsteren Berichte nicht davon ab, diesen Dienst auch weiter eifrig zu benutzen. Seit ihre Tochter den Plüschdrachen Momo bei sich zu Hause im Kinderzimmer stehen hat, könne sie selbst bei der Arbeit zwischendurch mit ihrer Tochter sprechen, schwärmt Li Hua. „Auf Momo hört sie mehr, als wenn ich zu Hause zum Essen rufe.“

In dem Moment brummt ihr Smartphone. Ihre Tochter, die sich im Nebenzimmer aufhält, hat eine Sprachnachricht hinterlassen. Sie brauche Hilfe beim Anziehen, hat sie eingesprochen. Mit lauter Stimme ruft Li Hua zurück: „Da musst du schon selbst herkommen.“

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