Chilly Gonzales: „Mein Dasein als Superschurke Gonzo ist sehr verführerisch“
Chilly Gonzales spricht über seine Psychoanalyse, Gemeinsamkeiten von Rapperinnen und Comic-Helden und einen Beef mit Richard Wagner in Köln.
taz: Chilly Gonzales, Ihr aktuelles Album heißt „Gonzo“. Es trägt also Ihren etablierten Künstlernamen. Die ganze Welt kennt Sie als Chilly Gonzales. Wie viel Jason Beck steckt denn noch in Chilly Gonzales?
Chilly Gonzales: Tatsächlich ist das eine Frage, die mich schon länger beschäftigt. Seit dem Jahr 2000, als ich den Künstlernamen Chilly Gonzales angenommen habe, wurde dieser immer präsenter in meinem Alltagsleben. Erst nannten mich meine Kolleg:Innen so, dann weitere Menschen, die ich über meine Musikkarriere kennen gelernt habe. Es gibt nur noch fünf Leute, die mich Jason nennen.
taz: Und wie finden Sie das?
Chilly Gonzales: Mir gefiel das von Anfang an, weil es mir bedeutete, dass mein Leben über meine künstlerische Seite geordnet und bestimmt wird.
taz: Warum ist das so?
Chilly Gonzales: Ich mochte einfach, dass Gonzo jemand Besonderes ist. Und nicht der Normalo Jason Beck, sondern eine Art Superheld meiner eigenen Geschichte – oder vielleicht sogar ein Superschurke, je nachdem. Jedenfalls ist es sehr verführerisch, so zu leben. Was mich dann nach einigen Krisen auf die Couch einer Psychoanalyse brachte.
Jason Charles Beck, besser bekannt als Chilly Gonzales, wurde 1972 als Sohn aschkenasischer Juden, die vor den Nazis nach Kanada geflohen waren, in Montreal geboren. Ende der 1990er Jahre kam er nach Berlin und war Teil der „Canadian Invasion“ ums Indielabel Kitty-Yo. Mit dem Hit „Take Me To Broadway“ etablierte er einen eigenwilligen Rapstil.
Ab 2004 machte er sich einen Namen als Pianist der Neoklassik. Seine beiden Alben „Solo Piano I/II“ verbinden Klassik mit Jazz zum geschmackssicheren, gefälligen Sound fürs Wohnzimmer. Vor Kurzem erschien das neue Album „Gonzo“ (Gentle Threat) mit furiosen Rapreimen und seinem ersten Song auf Deutsch („I.C.E.“)
Tournee: 4. 12. 2024 Düsseldorf Tonhalle, 14. 12. 2024 Hamburg Mojo, 16. 12. 2024 Berlin Konzerthaus
taz: Der Waschzettel zum Album spricht ebenfalls von Ihrer Psychoanalyse. Warum ist diese so relevant für Sie und das neue Album?
Chilly Gonzales: Ich musste relativ schnell feststellen, dass mir das Leben als Gonzo viele Vorteile gebracht hat, aber eben keine Dauerlösung für Probleme in meinem Leben darstellte. Etwa 2014, nach ein paar Jahren in der Therapie, habe ich eine persönliche E-Mail-Adresse mit meinem bürgerlichen Namen eingerichtet.
taz: Und doch heißt Ihr neues Werk „Gonzo“, wie kam es dann dazu?
Chilly Gonzales: Ich habe mich mit meiner Gonzo-Seite versöhnt. Während der Therapie habe ich verstanden, dass es nicht darum geht mich zu heilen, sondern ein gutes Leben zu führen. Dazu gehört auch, Gonzo seinen Platz einzuräumen, ohne dass dieses alternative Leben, diese Superheldenfantasie Überhand gewinnt.
taz: Diese Wandlung spiegelt sich auch in der Musik wider. Die neuen Songtexte kommen, anders als bei Vorgängern aus den Nullerjahren, deutlich von einem glaubwürdigen Platz. Was hat sich genau gewandelt beim Komponieren der Songs?
Chilly Gonzales: Wenn ich die neuen Texte mit den alten vergleiche, dann tut mir das Individuum von damals meistens leid. Die Lyrics sind geprägt von einer Mischung aus Selbstverachtung und Größenwahn. Mein damaliger Schreibprozess lässt sich auf diesen einen Gedanken runterbrechen: Welcher Satz, welcher Reim wäre jetzt cool? Das hat sich gewandelt. Beim neuen Album ging es darum, zu sagen, was ich wirklich denke und fühle.
taz: Sie haben mal gesagt, dass Ihre Playlist zu 70 Prozent aus Rap und zu 30 Prozent aus Klassik besteht. Außerdem sind Sie bekennender Comic-Fan. Gehören diese beiden Faszinationen zusammen?
Chilly Gonzales: Ja, natürlich. MF Doom, Busta Rhymes, Biggie Smalls – das sind ja alles Comicnamen. Es gibt eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden Kunstformen Rap und Comic, in der ich mich immer angesiedelt habe. Mein Leben, mein Denken und meine Wahrnehmung sind von Rap beeinflusst. Ich glaube auch nicht, dass es nur 70 Prozent Rap-Musik sind – im Moment sind es wahrscheinlich 95 Prozent Rap-Musik, die ich im Alltag höre.
taz: Dennoch hat es bis „Gonzo“ gedauert, dass Sie wieder auf einem Album gerappt haben. Darauf mussten die Fans über zehn Jahre warten – wenn man von Ihrem Abstecher „French Kiss“ absieht, bei dem Sie französisch gerappt haben.
Chilly Gonzales: Ich konnte einfach keine Texte mehr schreiben: Wissen Sie, ich bin als Künstler schon immer passiv, lasse die Sachen eher geschehen und forciere sie nicht. Es gab einfach nichts, was ich sagen wollte. Ein Zusammenhang zu meiner Therapie ist da ganz gewiss gegeben, denn sobald diese 2022 endete, brauchte es gerade mal zwei Monate, bis der Drang zum Texten wieder zurückkam.
taz: Rap als Kunstform endet bei Ihnen nicht beim Sprechgesang als Technik, Sie übernehmen auch andere Facetten. Zum Beispiel zetteln Sie auf dem neuen Werk einen Beef an – Sie dissen Richard Wagner.
Chilly Gonzales: So kann man das sehen. (lacht) Die Geschichte zum Stück „F*** Wagner“ reicht lange zurück. Mein Vater, der als Jude aus Ungarn nach Kanada flüchtete, war ein Wagnerianer. Er hat mich und meine Geschwister in der Jugend sogar mit nach Bayreuth zu den Festspielen geschleift. Er hat nichts auf seinen Wagner kommen lassen. Und so bin ich mit Wagner, diesem Überkomponisten, groß geworden. Später las ich dann Bücher über ihn und allmählich dämmerte mir, dass Wagner Antisemit war. Und damit meine ich nicht mal die Verbindungen, die die Familie Wagner in der NS-Zeit zu Adolf Hitler hatte, sondern bereits Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ von 1850. Deswegen ist mein Verhältnis zu Richard Wagner seit Jahren schwierig.
taz: Wie äußert sich das?
Chilly Gonzales: Seit ich 2012 nach Köln gezogen bin, wohne ich in unmittelbarer Nähe zur Richard-Wagner-Straße. Und an diesem Straßennamen finde ich einfach nicht richtig, dass man dadurch auch einen Antisemiten würdigt.
taz: Spielen wir des Teufels Advokat und behaupten, in diesem Fall müsse man die Trennung zwischen Künstler und Person ins Feld führen.
Chilly Gonzales: In anderen Fällen würde ich das gelten lassen, doch bei Wagner fallen der Komponist und der Antisemit zusammen – Antisemitismus ist Teil des Werks. Einige Zeit dachte ich, ob man die Straße besser nach seiner Oper „Parsifal“ nennen sollte, aber dann ergab sich ein anderer Gedanke: Warum würdigt man nicht eine ganz große Künstlerin, die Köln – eben die Stadt, in der ich lebe – für sich entdeckt hat, hier gelebt hat und ohnehin eine Ikone ist. So entstand die Idee zur Umbenennung in „Tina-Turner-Straße“ – und gleich danach auch die Change.org-Kampagne.
taz: Wie ist da der Stand?
Chilly Gonzales: Ein pfiffiger Bürger hat vor einiger Zeit bereits ein Tina-Turner-Straßenschild installiert. An diesem bin ich oft mit Freude und Stolz vorbeigegangen. Doch vor ein paar Wochen hat das Ordnungsamt das Schild wieder entfernt. Der nachvollziehbare Grund: Im Falle eines Notfalleinsatzes könnte es Ortsunkundige und Rettungskräfte verwirren. Ich werde mich aber weiter für eine Straßenumbenennung einsetzen.
taz: Neben Wagner kriegt auch die Neoromantik in Ihren Reimen ihr Fett weg. Ausgerechnet! Sie selbst gehören doch zu einer ihrer prägenden Figuren: Ihre beiden „Solo Piano“-Alben haben maßgeblich zur Popularisierung beigetragen.
Chilly Gonzales: Wenn ich das mal gewusst hätte, welche Folgen mein Tun hat! Aber Spaß beiseite: Man muss wirklich unterscheiden. Es gibt Künstler:innen wie Niels Frahm, Frahm macht durchaus innovative Musik. Und dann gibt es die, die – so nenne ich das auch im Song „Neoclassical Massacre“ – sich mit einem Piano in den Wald setzen, um Foto- und Videoaufnahmen zu machen. Warum ich dieses Selfie vom Klavier im Wald so hasse? Es wird genutzt als Zeichen für angebliche Reinheit – von Musik und ihren Gedanken. Das ist Virtue Signalling der übelsten Sorte. Damit will jemand Werte verkaufen: Die Musik ist echt! Das zugehörige Album ist handgemacht und kommt nicht aus einem Studio! So soll auch der Anschein erweckt werden, niemand möchte Geld mit der Musik verdienen! Das finde ich total verlogen.
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