Chefredakteurin über Obdachlose und Corona: „Die Solidarität ist riesig“

Das Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ ist erstmals nur digital erschienen. Den Verkäufer*innen fehlen die sozialen Kontake, erklärt Birgit Müller.

Ein Verkäufer hält mehrere Exemplare der Zeitschrift "Hinz&Kunzt" in einer Plastikhülle.

Zwangspause für Verkäufer: „Hinz&Kunzt“ ist im April erstmals nicht gedruckt erschienen Foto: Maja Hitji/dpa

taz: Frau Müller, im Editorial der aktuellen Hinz&Kunzt schreiben Sie, es sei eine „traurige Premiere“, dass die Ausgabe wegen Corona nur digital erscheint. Wie kam die Entscheidung zustande?

Birgit Müller: Das war eine ganz harte Entscheidung. Hinz&Kunzt ist untrennbar mit dem Print-Verkauf verbunden. Wir sind in erster Linie kein Online-Magazin und wollen es auch gar nicht sein. Aber wir waren besorgt, weil unsere Verkäufer*innen sehr stark zur Risikogruppe gehören. Einige Tage vorher hatten wir schon darauf umgestellt, die Magazine nur noch am Fenster an die Verkäufer*innen auszugeben, um den Kontakt der Verkäufer*innen mit anderen zu minimieren. Aber auch dabei hatten wir ein schlechtes Gewissen.

Warum?

Wir hatten das Gefühl, wir locken sie her. Für viele Verkäufer*innen ist der Zeitungsverkauf der Inbegriff ihres Lebens. Einerseits, weil sie damit Geld verdienen, andererseits, weil der Verkauf soziale Kontaktpflege bedeutet. Aber gerade das soll derzeit weitgehend minimiert werden. Wir mussten dann die Reißleine ziehen.

Wie reagierten die Verkäufer*innen auf die Entscheidung, dass die kommende Ausgabe nicht gedruckt wird?

Viele hatten vorher schon Angst und kamen nicht mehr. Für andere hingegen ist der Verkauf, wie gesagt, zentraler Lebensbestandteil.

Wird die Online-Ausgabe angenommen?

Wir haben noch keine genauen Zahlen, aber wir merken, dass viel mehr Menschen derzeit unsere Social-Media-Kanäle und die Homepage besuchen.

Kommt dadurch auch Geld rein? Die Ausgabe ist auf der Homepage frei zugänglich mit dem Hinweis auf die Spendenmöglichkeit.

Wir erfahren seit dem Tag, an dem wir die Ausgabe online gestellt haben, eine unfassbare Solidarität der Hamburger*innen. Weil die Verkäufer*innen jetzt kein Einkommen haben, hatten wir uns für eine „Überlebenshilfe“ von 100 Euro an alle Verkäufer*innen entschieden. Bei 530 Verkäufer*innen war das für uns ein finanzielles Risiko und wir wussten nicht, ob wir das wirklich an alle auszahlen können. Aber durch die Spenden der Hamburger*innen hatten wir das Geld dafür in kürzester Zeit.

Aber reichen den Verkäufer*innen 100 Euro aus, um zu überleben?

Das wird sicher knapp, vor allem für diejenigen, die keine Sozialhilfe beziehen. Aber das Schöne ist: Wir haben so viele Spenden erhalten, dass wir nach Ostern noch mal eine zweite Tranche verteilen können. Ich kann es gar nicht genug sagen: Die Solidarität, die wir momentan erfahren, ist riesig.

„Wir sind immer wieder an die Behörden herangetreten, doch sie reagierten darauf immer unfassbar kaltschnäuzig“

Also könnte auch die nächste Ausgabe nur online erscheinen, ohne dass Sie sich Sorgen um die Zukunft von Hinz&Kunzt machen müssen?

Teile der Belegschaft sind derzeit in Kurzarbeit. Aber wir hoffen, dass wir im Mai oder spätestens im Juni wieder auf die Straße gehen können. Wir überlegen uns bereits Exit-Strategien, wie wir die Verkäufer*innen dann unterstützen können. Die Hinz&Künztler*innen sind jetzt schon ungeduldig. Eine Zeit lang kann man, wie wir alle, auf soziale Kontakte weitgehend verzichten, aber sie haben es natürlich sehr schwer. Immerhin gibt es einige, die erzählen, dass sie mit ihren Kunden telefoniert haben.

Rund 250 Obdachlose können nun vor­übergehend in leer stehenden Hotels übernachten. Das Unternehmen Reemtsma Cigarettenfabriken stellt Hinz&Kunzt und der Tagesaufenthaltsstätte Alimaus dafür 300.000 Euro zur Verfügung. Wie kam das zustande?

Das ist wirklich ein wundervolles Projekt, wir sind wahnsinnig glücklich. Jetzt können wir das umsetzen, was wir von der Stadt gefordert haben. Es war ein toller Zufall: Ein Hotel hatte uns schon gefragt, ob wir für kleines Geld Zimmer buchen wollen. Und mit der Spende können wir gemeinsam mit Alimaus und der Diakonie die Einzelunterbringung in mehreren Hotels nun organisieren.

Die Stadt sagt zu entsprechenden Forderungen, das sei nicht nötig, es gebe schließlich das Winternotprogramm – was halten Sie davon?

Es ist mir schleierhaft, wie man so etwas sagen kann. Es gibt ein großes Winternotprogramm und trotzdem schlafen viele Leute auf der Straße. Meistens deshalb, weil sie eben nicht in einer Großunterkunft klarkommen. Und in Corona-Zeiten birgt eine Großunterkunft auch noch die Gefahr der Ansteckung – wie etwa in einem Altenheim. Wir sind deshalb immer wieder an die Behörden herangetreten, doch sie reagierten darauf immer unfassbar kaltschnäuzig.

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