Catcalling auf Berlins Straßen: Nur mit Pulli sicher
Verbale sexuelle Belästigung ist für Frauen im Sommer Alltag. Catcalling ist keine Vorstufe zu einer Tat, sie ist eine, findet unsere Autorin.
Es wird kalt, ich kann mir einen Pulli überziehen. Mir fällt ein Stein vom Herzen: Endlich Schutz. Der Sommer war eine Qual, die verbalen sexuellen Belästigungen kaum auszuhalten.
„Warum kannst du keinen BH tragen?“, schrie mich ein Mann neulich vorwurfsvoll an, als ich auf die Straße trete. „Ich kann deinetwegen auf der Straße nicht laufen!“, sagt er und zeigt auf seinen erigierten Penis. Ob ich denn nicht verdammt noch mal einen BH hätte?
„Doch, klar“, entgegne ich ihm. Was würde dir denn heute gefallen, was ich mit meinen Brüsten mache? „Glaubst du, dir würde nicht der Sabber aus dem Mund fließen, wenn ich einen BH tragen und meine Brüste noch größer wirken würden?“, frage ich den Erigierten-Penis-Mann. „Fick dich Bitch!“
Bei diesen Reaktionen verstehe ich, dass der Großteil meiner Freundinnen die sexualisierenden Kommentare wortlos über sich ergehen lässt. Es erfordert Mut und Kraft, sich zur Wehr zu setzen.
Die Erfolgschancen der Verfolgung einer Strafanzeige sind derweil verschwindend gering – auch weil diejenigen, die die Straftaten aufnehmen, sich selbst oft sexistisch verhalten.
„Schöne Beine“, kommentierte ein Polizist neulich, als ich auf einer feministischen Demo an ihm vorbei lief. Sein Kollege (weil ich eine Boxerhose trug): „Boxt du auch im Bett?“ Schallendes Gelächter in den Reihen der Polizei. Fast muss ich selbst lachen, weil ich früher allen Ernstes dachte, sie seien diejenigen, die mich beschützen.
Internalisierter männlicher Blick
Dabei sind sie es, die die Gewalttaten gegen Frauen häufig verteidigen, indem sie Frauen einschüchtern, nicht ernst nehmen oder Täter-Opfer-Umkehr betreiben. Sie sind es, die Fragen stellen, die an die Kategorie „Was hattest du an?“ erinnern und implizieren, dass die erfahrene sexualisierte Gewalt eine adäquate Reaktion auf eine „Provokation“ der Betroffenen sei. „Provokationen“ sind dann wohl, es als Frau zu wagen, ein T-Shirt zu tragen.
Studien ergeben, dass das Durchschnittsalter für den ersten Catcall, also verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, in Deutschland 13,8 Jahre beträgt. Die Täter sind zu fast 100 Prozent Männer. Dadurch internalisieren Mädchen ab dem Kindesalter den male gaze, die Projektion männlicher Fantasien auf Frauen, sodass viele im Erwachsenenalter gar nicht mehr wissen, wie sie ihren Körper schön finden. Wehrt man sich gegen die ständig ausgesprochene Bewertung durch Männer, wird einem häufig unterstellt, man habe ein persönliches Problem.
Was, wenn kein strukturelles Problem, ist es, wenn ich nahezu jeden zweiten Tag Erfahrungen mache, wie mit dem Mann auf der Hermannstraße in Berlin, der sich im Vorbeilaufen an mir, die Lippen leckt und fragt: „Darf ich mal abbeißen?“.
Oder dem Typen, der aus dem Auto auf mich spuckt und sagt: „geil“. Oder den Männern auf der Boddinstraße, die sich lautstark über mich unterhalten: „Ey, guck mal die geile Schlampe, so eine muss man direkt nehmen, lecken und ficken, von vorne und von hinten.“
Aus diesen Worten müssen keine Taten werden, sie sind es bereits. Trotzdem ist Catcalling hierzulande als berührungslose Belästigung nicht strafbar. Geahndet werden kann es höchstens als Beleidigung nach Paragraf 185 StGB, der die Ehre schützt. Doch es gibt eine Strafbarkeitslücke: Viele degradierende Sprüche fallen nicht darunter.
„Du Schlampe“ etwa gilt als Beleidigung der Ehre, „geiler Arsch“ hingegen nicht. 2017 urteilte der Bundesgerichtshof, die Aussage eines 65-jährigen Mannes gegenüber einem 11-jährigen Mädchen, er wolle ihr „an ihre Muschi fassen“, enthalte keine „herabsetzende Bewertung“.
Während die schwammigen Grenzen dieser Mikroaggressionen das deutsche Rechtssystem vor Herausforderungen stellen, gilt Catcalling in Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden als mit Geldstrafen bewehrte Straftat.
In Deutschland unterzeichneten 2020 knapp 70.000 Menschen eine Petition für eine Gesetzesverschärfung. Anfang des Jahres hat die niedersächsische Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) angekündigt, eine Bundesratsinitiative für eine Gesetzesänderung auf den Weg bringen zu wollen. Passiert ist bislang nichts. Selbst wenn Catcalling strafbar wäre, ist fraglich, ob es Männer abschrecken würde.
Normalisierung von niedrigen Gewaltformen
Für physische sexuelle Belästigung können Täter mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft werden. Das hält sie nicht gerade von den Taten ab. Laut Bundesfamilienministerium wird jede dritte Frau in Deutschland einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.
Frauen erstatten nicht zuletzt deshalb häufig keine Anzeige, weil Institutionen und die Justiz Gewalt gegen Frauen nicht hinreichend ahnden. Neben unzureichender Rechtsprechung fehlt es auch an einem Verständnis für ihre Lebensrealitäten und echtem Willen, Frauen zu schützen. Das wird am Beispiel von Catcalling und dem verzerrten Ehrverständnis des Justizsystems deutlich, das überwiegend von weißen Männern geprägt wird.
Wie wirksam eine Strafbarkeit von Catcalling wäre, ist daher unklar. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, die Moralvorstellungen der Öffentlichkeit widerzuspiegeln. Verbale sexuelle Belästigungen sind Gewalt. Sie können der Anfang der Gewalt sein, die im Femizid gipfelt.
Catcalling nicht unter Strafe zu stellen, trägt dazu bei, dass niedrigere Gewaltformen als „normal“ und akzeptabel gelten. Es strafrechtlich zu verfolgen, würde signalisieren, dass Sexismus nicht erst bei körperlicher Gewalt beginnt.
Es könnte Frauen die Legitimation geben, ihre Erfahrungen als belastend zu empfinden. Mir ist es peinlich, dass ich in letzter Zeit so oft deshalb weinen muss. Ist doch nichts passiert.
Aber es ist etwas passiert. Ich schränke mich täglich ein. Jeden Morgen stehe ich vor dem Schrank und frage mich: Habe ich genug Energie für das Tanktop oder trage ich doch lieber Pulli, auch bei 30 Grad? Um in Ruhe gelassen zu werden, um die Sprüche nicht mehr ertragen zu müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel