Caritas-Chef über Flüchtlinge: „Niemand kennt derzeit die Lösung“
Georg Cremer von der Caritas über Horst Seehofer, die Willkommenskultur, das Recht auf Asyl und warum die Stimmung aus seiner Sicht nicht kippt.
taz.am wochenende: Herr Cremer, laut einer Umfrage des ARD-Magazins „Monitor“ fühlt sich die Mehrheit der Kommunen in Deutschland durch die hohen Flüchtlingszahlen nicht überfordert. Wie sehen Sie das als Wohlfahrtsverband?
Georg Cremer: Wir haben zweifellos eine sehr große Herausforderung zu bewältigen. Die eine Million Menschen, die 2015 zu uns gekommen sind, können wir einem rechtsstaatlichen Verfahren zuführen, und die, die bleiben, können wir integrieren. Wenn jedes Jahr eine Million Menschen kommen, wird es zu einer Situation der Überforderung kommen, wenn nicht mehr europäische Länder zur Aufnahme bereit sind. Aber unser Leben hat sich im vergangenen Jahr nicht völlig verändert. Wir sollten deshalb rhetorisch abrüsten.
Sie denken dabei an Horst Seehofer?
Wir sehen die Herausforderungen vielleicht realistischer als im Sommer 2015, das muss nicht schlecht sein. Aber die Formulierung von einer „Herrschaft des Unrechts“ unterstellt, die Kanzlerin habe Recht gebrochen. Das halte ich für einen unhaltbaren Vorwurf. Die Wahrheit ist doch: Das Dublin-System als Grundpfeiler der europäischen Flüchtlingspolitik ist kollabiert, und man kann nicht von der Bundesregierung verlangen, ein System zu exekutieren, dass es faktisch nicht mehr gibt. Das wäre auch gegenüber den Flüchtlingen unverantwortlich. Unhaltbare Vorwürfe spielen einer rechtspopulistischen Mobilisierung in die Hände. Mit übersteigerter Rhetorik steigert man diese Gefahr.
Auch der CDU-Politiker Jens Spahn hat von „Staatsversagen“ gesprochen. Schmerzt es Sie, wenn gerade Parteien, die ein C im Namen tragen, inzwischen vor allem auf Abschreckung und Begrenzung der Flüchtlingszahlen setzen?
Ich will nicht einzelne Politiker oder Parteien bewerten. Die Vorsitzende der CDU hat sich für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt und ist damit hohe politische Risiken eingegangen, das ist höchst anerkennenswert. Und auch aus der SPD kamen Töne, die suggerierten, es sei die Kanzlerin gewesen, die eine Million Menschen ins Land gelassen habe. Aber eine einzelne Person ist nicht verantwortlich für die Situation, in der wir uns befinden. Wer gleichzeitig auf der Klaviatur der Menschenfreundlichkeit und der Abgrenzung spielt, erzeugt mitunter Dissonanzen.
Aber auch aus der Zivilgesellschaft gibt es ja bedenkliche Äußerungen. Auch der Topos, der versagende Staat sei von der Zivilgesellschaft gerettet worden, ist Unsinn. Er verkennt, wie viele Landratsämter und Behörden bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet haben und was für eine gute Zusammenarbeit es zwischen Staat und Zivilgesellschaft vielerorts gibt. Warum muss man das staatliche Engagement diskreditieren?
Sind die Ereignisse in Sachsen nicht ein Zeichen dafür, dass die Stimmung gekippt ist?
Jahrgang 1952, ist Volkswirt und seit 2000 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. 1990–1999 war er Referent und Referatsleiter bei der Caritas und zuständig für die Katastrophenhilfe in Asien und für soziale Programme in Osteuropa.
Mich entsetzen solche Ereignisse wie in Clausnitz. Aber es wäre unfair, sie nur in Sachsen und in den neuen Bundesländern zu verorten. Wir hatten von Anfang an eine hohe Aufnahmebereitschaft – und gleichzeitig eine starke Abwehr gegen alles Fremde. Aus der Erfahrung der Caritas kann ich sagen: Die Stimmung kippt nicht. Das ehrenamtliche Engagement ist so hoch wie im Sommer. Aber in der medialen Wahrnehmung wurde im Sommer einseitig auf die Willkommenskultur, heute mehr auf die erschreckenden Ereignisse fokussiert. Wir hatten und wir haben beides.
Papst Franziskus setzt sich sehr für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen ein. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus? Gibt es da einen Franziskus-Effekt? Hat das in den Gemeinden spürbar die Motivation befördert, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Ich glaube, schon. Sein Besuch in Lampedusa hat dazu beigetragen, sensibel auf die Situation der Flüchtlinge zu schauen. Papst Franziskus hat viele ermutigt, innerhalb und außerhalb der Kirche.
Unterscheidet sich die Kirche in Deutschland da von der Kirche in Osteuropa, zum Beispiel in Polen und Ungarn? Dort scheinen die Ängste zu überwiegen.
Mein Eindruck ist: Die Kirche und die Bischöfe in Polen und Ungarn teilen die dominante nationale Sichtweise. Es gibt keine gemeinsame Stimme der Kirchen angesichts dieser schicksalhaften Herausforderung. Ich hätte mir gewünscht, dass die Kirchen in Ungarn und Polen den Impuls von Franziskus aufgenommen hätten und für die Aufnahme von Flüchtlingen in ihren Ländern öffentlich geworben hätten. Das ist, soweit ich weiß, nicht passiert. Auch der Einsatz für eine gemeinsame europäische Lösung bei der Aufnahme der Flüchtlinge lässt zu wünschen übrig.
Die „europäische Lösung“ sieht im Moment so aus: Flüchtlinge werden von Griechenland zurück in die Türkei geschoben, und immer mehr Länder errichten Zäune und kontrollieren ihre Grenzen. Wohin soll das führen?
Eine europäische Lösung im guten Sinne wäre eine, die das individuelle Recht auf Asyl anerkennt und legale, sichere Wege für Schutzsuchende bereitet, ohne Grenzen generell zu öffnen. Hierfür müssten alle Länder der EU Verantwortung übernehmen. Ein Baustein wäre auch eine größere Bereitschaft für humanitäre Aufnahmen. Mit dem jetzt ausgehandelten Kompromiss wurde der Versuch gemacht, sich einer europäischen Lösung zu nähern. Doch es gibt viele offene Fragen. Um nur eine zu nennen: Warum erhalten nur syrische Flüchtlinge die Chance, in die EU einzureisen, und zum Beispiel Menschen aus Eritrea nicht?
Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Meines Erachtens müssen wir uns eingestehen, dass niemand derzeit die Lösung kennt. Denn alles, was wir gegenwärtig diskutieren – Eindämmung der Fluchtgründe, Stützung der Nachbarländer, schnellere Asylverfahren bis zur Bekämpfung des Schlepperwesens –, sind nur Elemente einer Lösung. Natürlich hoffen wir alle, dass sich die Lage in Syrien stabilisiert. Was wir uns bis dahin wünschen, ist, dass die demokratischen Kräfte versuchen, die Situation zu bewältigen, statt sich in absurden gegenseitigen Schuldzuweisungen zu ergehen, weil das nur den Gegnern einer offenen Gesellschaft in die Hände spielt. Bewältigen lässt sich die Herausforderung nur, wenn sich staatliches Handeln mit Unterstützung der Zivilgesellschaft verbindet.
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