Cannes-Gewinner „Anatomie eines Falls“: Das trügerische Wesen der Wahrheit
Der Film „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet ist ein gekonnt verworrener Thriller. In Cannes wurde er mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Die Wahrheit ist bisweilen wie ein wildes Tier. Nähert man sich ihm, nimmt es Reißaus. Bekommt man es für einen flüchtigen Moment zu fassen, beißt und kratzt es. Versenkt es seine Zähne in seinem Verfolger, schreibt es sich in ihm ein. Eine Narbe bleibt als Beweis dafür zurück, dass man ihm begegnet ist. Und das Vergessen wird zur bloßen Unmöglichkeit.
Dieses wilde Tier ist der eigentliche Protagonist in Justine Triets verwickeltem Thriller „Anatomie eines Falls“. Wie eine geflissentliche Naturfilmerin widmet sie sich ihrem Gegenstand, deren Beute und deren Fressfeinden. Mit großer Nüchternheit observiert die französische Filmemacherin deren Widerstreit, beinah als handele es sich um einen natürlichen Kreislauf. Ohne in ihn einzugreifen, ohne sich einen Kommentar über seine Brutalität zu erlauben.
Ausgerechnet der elfjährige Daniel (Milo Machado Graner) ist es, der in „Anatomie eines Falls“ mit ungeheuerlichen Wahrheiten ringen muss. Der sehbeeinträchtigte Sohn der Familie Voyter findet nach einem Spaziergang mit seinem Hund Snoop am Fuße des familieneigenen Chalets in den französischen Alpen, direkt unter dem Balkon, den leblosen Körper seines Vaters Samuel (Samuel Theis) auf. Aus der Wunde an seinem Kopf dringt Blut, eine im Sonnenschein rötlich schimmernde Spur zieht sich durch den Schnee.
Ob seine Mutter Sandra (Sandra Hüller) derart wenig Interesse daran zeigt, die Wahrheit über die Todesumstände ihres Ehemanns aufzuklären, weil sie Schuld an seinem Ableben trägt oder Daniel schlicht die Details einer tiefergehenden Wahrheit ersparen möchte, ist das größte Mysterium im Zentrum des bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes mit der Palme d’Or ausgezeichneten Werks. Fest steht allein, dass sie bald als Angeklagte im Zentrum eines öffentlichkeitswirksamen Mordprozesses steht.
„Anatomie eines Falls“. Regie: Justine Triet. Mit Sandra Hüller, Swann Arlaud u. a. Frankreich 2023, 150 Min.
„Anatomie eines Falls“ wirkt in seiner Prämisse zunächst wie ein weiterer spannungsreicher „Whodunit“-Krimi. Tatsächlich hat Justine Triet einen Film geschaffen, der einen weder mit einfachen Antworten entlässt noch sich bemüßigt sieht, die Sensationsgier eines durch den „True Crime“-Trend an einfache Antworten gewöhnten Publikums zu bedienen. Mehr als an der Aufklärung des Falls selbst zeigt sich das von Triet gemeinsam mit ihrem Partner Arthur Harari virtuos angelegte Drehbuch daran interessiert, das verworrene Wesen der Wahrheit seinem Publikum effektvoll nahezubringen.
Erfahrungen über Gespräche vermitteln
Das tun sie mitunter, indem die beiden Filmemacher während der zweieinhalbstündigen Spielzeit einen Großteil des Familien- und Ehelebens nur indirekt, etwa über Gespräche zwischen Sandra und ihrem Anwalt (Swann Arlaud), zwischen Daniel und einer ihm zur Seite stehenden Justizangestellten (Jehnny Bethmit), vermitteln. Lediglich ein einziges Fragment zu den Umständen des Todes von Samuel zeigt „Anatomie eines Falls“ ganz unmittelbar, in Form einer sich zuvor abspielenden Szene.
„Was wollen Sie wissen?“, fragt eine Stimme antizipatorisch aus dem Off, die sich einen Schnitt später als Sandras zu erkennen gibt. Ihr sitzt eine eifrige Doktorandin (Camille Rutherford) gegenüber, die sie zu ihrem schriftstellerischen Schaffen interviewen möchte. Mit einem herausfordernden Lächeln auf den Lippen und einem halbleeren Weinglas in den Händen lässt Sandra ihre darauffolgenden Fragen allerdings ins Leere laufen.
Als wolle sie das Gespräch in eine gänzlich andere Richtung lenken, versucht sie die Kontrolle zu übernehmen. Erkundigt sich stattdessen herausfordernd, ob es in der jungen Frau etwas gibt, das sie derart in Wut versetzt, dass sie es erforschen möchte. Die Anbahnung eines Flirts aber wird abrupt unterbrochen.
In ohrenbetäubender Lautstärke dringen die Bässe einer vergnügten Steel-Drum-Version von 50 Cents „P.I.M.P.“ aus dem oberen Stockwerk zu den beiden herunter und verhindern jede Fortsetzung des Gesprächs. Ihr Mann höre während seiner Arbeit stets laute Musik, erklärt Sandra, als sie die irritierte Interviewerin hinauskomplimentiert.
Selbst diese Eröffnung, mit der „Anatomie eines Falls“ zur Sektion des Wesens der Wahrheit ansetzt, erweist sich als eine opaleszierende Sequenz. Eine, die sich im Fluss der folgenden Geschehnisse windet und mit jeder neuen Einsicht in einem anderen Licht präsentiert. Je nach Wissensstand erscheint Sandra vom Verhalten ihres Ehemanns schlicht etwas genervt, später geradezu resigniert. Mal wirkt ihr Auftreten gegenüber der Doktorandin wie eine kleine Kokettiere, später wie ein kalt berechnender Versuch, ihren Ehemann erneut zu betrügen.
Hat Sandra ihn geschubst? Oder war es Suizid?
Immer wieder scheinen damit andere Szenarien um Samuels Tod am Wahrscheinlichsten: Hat Sandra ihren Mann während eines womöglich im Anschluss entbrannten Streits vom Balkon geschubst? Bereitete sich Samuel während des Gesprächs bereits insgeheim auf einen Suizid vor? Ist er kurz danach bei einem tragischen Unfall aus dem Fenster gefallen? Schließlich wird sogar fraglich, ob Samuel zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war.
Das wilde Tier, so führt „Anatomie eines Falls“ spektakulär vor Augen, ist für Außenstehende eine scheue Chimäre. Erblickt man einen Teil von ihr, meint man ihr Ganzes zu kennen. Und wird im nächsten Moment eines Besseren belehrt.
Das Wesen der Wahrheit, so insistiert Triets Film, als im Laufe des Gerichtsprozesses immer mehr Details über die Beziehung zwischen Sandra und Samuel ausgebreitet werden, ist allerdings nicht weniger trügerisch für jene, die sie am besten kennen müssten. In der wohl intensivsten Schlüsselszene des Films wird eine Aufnahme eines Streits zwischen dem Ehepaar abgespielt, die Samuel am Vortag für ein Buchprojekt heimlich anfertigte.
Mit unerbittlicher Vehemenz konfrontieren sie sich gegenseitig mit ihrer Version der Wahrheit: Samuel wirft darin seiner Ehefrau vor, die ganze Verantwortung auf ihn abzuwälzen. Seit dem Autounfall, bei dem Daniel einen Teil seiner Sehkraft verlor, unterrichtet er seinen Sohn zu Hause, kümmert sich außerdem um den Haushalt und baut das Dachgeschoss für Fremdenzimmer aus, um den finanziellen Problemen der Familie beizukommen.
Sandra hält dagegen, dass sie nicht an Reziprozität in Beziehungen glaube, dass sie ihr geliebtes London dennoch für ihn verlassen und sich damit nach dem Aufwachsen in einem deutschen Kaff ihm zuliebe in ein französisches begeben habe. Dass er ständig nach Beschäftigungen suche, um seinen Schuldgefühlen nach Daniels Unfall zu entkommen, um nicht an seiner stockenden Schriftstellerkarriere arbeiten zu müssen und Sandra gleichsam ihren eigenen Erfolg vorhalten zu können.
Wie unglücklich sie miteinander waren
Für das Publikum beweist die Audiodatei angesichts des heftigen Geschreis und einer am Ende zu vernehmenden körperlichen Auseinandersetzung mit einer gewissen Sicherheit wiederum lediglich, welch katastrophale Züge die Ehe von Sandra und Samuel angenommen hat, wie unglücklich sie miteinander gewesen sind.
Letztlich ist es Daniel, der sich als Zuhörer und Zeuge zu dieser traurigen Erkenntnis verhalten muss, seine abschließende Aussage wird vermutlich ausschlaggebend für die Entscheidung der Geschworenen sein. Darüber, dass man das wilde Tier mit einem Urteilsspruch gezähmt, gar verstanden haben könnte, macht sich „Anatomie eines Falls“ allerdings keine Illusionen.
Ohne in Abrede zu stellen, dass es so etwas wie objektive Fakten wie die Schuld oder Unschuld zumindest in einem juristischen Sinne gibt, plädieren Triet und Harari dafür, dass die Wahrheit, die zwischen zwei Menschen wohnt, ein glänzendes Gefieder trägt. Eines, das je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachtet, in gänzlich unterschiedlichen Farben aufleuchtet. Und sich für niemanden jemals im exakt gleichen Gewand präsentiert.
Dass „Anatomie eines Falls“ nicht nur durch seine komplexe Konzeption und herausragenden schauspielerischen Darbietungen, sondern auch in visueller Hinsicht besticht, ist der elegant-unaufgeregten Kamera Simon Beaufils zu verdanken, die neben dem Schrecken vor beeindruckendem Bergpanorama immer wieder ruhige Momente einfängt. Solche, die poetische Anspielungen enthalten, die in ihrer Eleganz über jede einfache Antwort erhaben sind. Etwa wenn Daniel am Piano sitzt und bezeichnenderweise nicht von den vor ihm liegenden Noten abliest, sondern immer wieder von Neuem ansetzt. So lange, bis sich die Töne für ihn zu einem stimmigen Ganzen zusammensetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut