Camp für geflüchtete Menschen in Afrika: Dem Leid ins Gesicht sehen
Europa verschließt sich dem „Flüchtlingsproblem“, wenn es sich nicht vor der Haustür abspielt. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen sieht anders aus.
W ährend die Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria und die türkische Grenzöffnung vor einigen Monaten aller Welt vor Augen führte, wie brüchig Griechenland als äußerer Wall der Festung Europas tatsächlich ist und wie brutal das Schicksal derer, die zum Spielball politischer Hahnenkämpfe werden, deutet das Ausmaß der öffentlichen Empörung zugleich darauf hin, wie erschreckend gut die europäische Externalisierung der Außengrenzen auf den afrikanischen Kontinent funktioniert.
Das soll nicht heißen, dass die europäische Migrationspolitik in Afrika erfolgreich Fluchtursachen bekämpft oder die forcierte Schließung von Grenzen und Kriminalisierung der Migration durch afrikanische Regierungen nicht zu unerwartetem Widerstand und großem Leid führen würde. Es soll heißen, dass die vermeintliche Externalisierung des „Flüchtlingsproblems“ durch Europa einen Zweck erfolgreich erfüllt: aus den Augen, aus dem Sinn.
Als Anfang Januar dieses Jahres unweit der nigrischen Stadt Agadez ein UNHCR-Flüchtlingslager in Flammen aufging, hörte hier kaum jemand davon. Die Berichterstattung in Deutschland darüber war praktisch nicht existent. Die hiesige Öffentlichkeit interessiert sich nicht für das Schicksal von Geflüchteten, die sich abseits des Mittelmeers in endlosen unerträglichen Warteschleifen gefangen sehen.
Wie auf Lesbos wurde den Menschen in Niger vorgeworfen, das Lager aus Protest angezündet zu haben, um den UNHCR und die nigrische Regierung dazu zu zwingen, den Flüchtlingen die Weiterreise in andere Länder zu ermöglichen. Entsprechend waren die Reaktionen der verantwortlichen Stellen: Von einem unverantwortlichen Akt, von Vandalismus und dem Versuch der Erpressung war die Rede.
Nur ein Bruchteil der Lagerinsassen wurden ausgeflogen
Dem Brand in Agadez vorausgegangen waren anhaltende Proteste gegen die schlechten Lebensbedingungen für Geflüchtete in Nigerund die Vernachlässigung ihrer Asylanträge. Entgegen der Lesart des UNHCR, wonach die Proteste nur das Ziel hatten, eine schnelle Umsiedlung in andere Länder einzufordern, widersprach ein ehemaliger Mitarbeiter gegenüber dem New Humanitarian:
„Sie führen die Umsiedlung immer wieder als eine Art Strohmann an, um von der Tatsache abzulenken, dass diese Menschen vernachlässigt wurden.“ Die im Lager lebenden Menschen waren durch den Emergency Transit Mechanism (ETM), den der UNHCR 2017 einrichtete, aus Libyen evakuiert worden. Von den insgesamt 57.000 registrierten Flüchtlingen in Libyen wurden bis März dieses Jahres ganze 3.080 Flüchtlinge nach Niger ausgeflogen.
Kaum ein afrikanisches Land erklärte sich bereit, für die EU zum Aufnahmelager zu werden. Die Regierung Nigers, die zu diesem Zeitpunkt schon 1 Milliarde Euro von europäischen Regierungen für die Kooperation in Migrationsfragen bekommen hatte, bot sich lediglich als temporäres Aufnahmeland an. Sie bestand auch darauf, selbst die Schutzbedürftigkeit aller Menschen zu kontrollieren, die aus dem Lager umgesiedelt werden sollten – unabhängig vom UNHCR.
Die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen stößt in Europa an Wände, wenn es um die Umsetzung der ETM geht, die den Menschen in den libyschen Flüchtlingslagern eine Perspektive verschaffen sollte. Viele warteten zum Zeitpunkt des Feuerausbruchs schon zwei Jahre und länger auf verlässliche Informationen zu ihrem Asylverfahren.
Niger lässt sich teuer bezahlen
Ihre Forderung für ein Leben in Sicherheit und Würde, für die sie auf die Straßen von Agadez zogen, kommt deshalb wenig überraschend. Am 4. Januar 2020 lösten nigrische Sicherheitskräfte das Sit-in mit brutaler Gewalt auf. Ein Video zeigt, wie eine Person von Sicherheitskräften von einem Gebäude geworfen wurde. Hunderte Demonstranten wurden verhaftet, alle anderen zurück ins Lager gebracht. Damit brach der Protest nicht ab.
Augenzeugen berichten von erneuter Eskalation der Gewalt und dem Einsatz von Tränengasgranaten. Ein Feuer brach aus und zerstörte den Großteil der Unterkünfte. Für die nigrische Regierung sowie UNHCR-Offizielle war schnell ausgemacht, dass es sich um vorsätzliche Brandstiftung handelte. Anders interpretiert handelte es sich um einen Akt der Verzweiflung gegenüber der repressiven Politik der nigrischen Behörden.
Geflüchtete aus dem Sudan machten die Tränengasgranaten der Sicherheitskräfte für das Feuer verantwortlich. Nach einer Logik der kollektiven Bestrafung nahm die nigrische Regierung mindestens 335 Menschen in Haft, während die Leiterin des Lagers, Alexandra Morelli, betont emotional erklärte, dass sie sich verraten fühle, „als eine Mutter, die an ihre Kinder geglaubt hatte“. In Solidarität mit den nigrischen Behörden arbeitet sie an der Aufklärung dieser unsäglichen Tat.
In Agadez blieben die Menschen außerhalb des abgebrannten Lagers wochenlang in Notunterkünften dem harschen Klima der Wüste ausgeliefert, während der UNHCR auf Genehmigung für die Errichtung vorübergehender Unterkünfte wartete. Laut der Irish Times dauerten die Proteste bis zum August an. Über einhundert Menschen wurden strafrechtlich verurteilt. Die Schuldfrage scheint in Moria ebenso schnell geklärt worden zu sein wie die in Agadez.
Wochenlanges Ausharren in Notunterkünften
Die griechische Regierung ist in guter Gesellschaft mit ihrer Haltung, dass nicht die unhaltbaren Zustände in den Lagern und die Hoffnungslosigkeit Grund für die Verzweiflung der Menschen ist, sondern die undankbare Haltung und kriminelle Aktionen der Schutzsuchenden. Hier wird nicht nach Ursachen gesucht, sondern nach Sündenböcken.
So beherrscht eine Logik der Abschottung ungebrochen die europäische Migrationspolitik, selbst jene Maßnahmen, die zur vermeintlichen Bekämpfung von Fluchtursachen verfolgt werden. Eines scheint sicher: Moria kann nicht mehr so schnell unter den Teppich gekehrt werden. Agadez hingegen schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken