CDU-Nachwuchs Jens Spahn: Der Mini-Seehofer
Die einen nennen ihn rotzfrech, die anderen sehen in ihm die Zukunft der Partei. Der CDU-Abgeordnete Jens Spahn macht Lautsein zu seiner Marke.
Am Abend zuvor hat die Bundeskanzlerin bekannt gegeben, sie werde zum vierten Mal als Kanzlerin antreten. Spahn, der 36 Jahre alte CDU-Politiker – blauer Pullover, Hornbrille, zurückweichendes Haupthaar –, sitzt freundlich lächelnd vor seinem Laptop und trinkt Kaffee aus einer roten Henkeltasse. Aufdruck: The Queen.
Warum gerade er gefragt wird? Nun, Spahn gilt parteiintern und in der öffentlichen Wahrnehmung als Mini-Seehofer. Er sagt gern Dinge, die von Merkels Kritikern mutig, auch mal rotzfrech genannt werden. Er gilt als ehrgeiziger und machtbewusster Hoffnungsträger, was unter anderem daran liegen könnte, dass es ihm gelingt, Sachverhalte gekonnt zu verkürzen.
Das klingt dann so: Spahn bezeichnet sich als „burkaphob“ und beschwert sich über „arabische Muskelmachos“ in seinem Berliner Fitnessstudio, wegen deren überzogenem Schamgefühl es neuerdings erlaubt sei, in Unterhosen zu duschen. In seinem Buch „Ins Offene“, das im katholischen Herder-Verlag erschienen ist, schreibt er über die Flüchtlingsfrage und benutzt das Wort „Staatsversagen“, wenn auch leicht abgeschwächt: „eine Art Staatsversagen“. Es ist ein Terminus, den auch AfD-Politiker wie Frauke Petry oder Björn Höcke verwenden. Für „Diebe, Grapscher und Betrüger“ fordert Spahn viel Polizei und, vor allem, für den Sicherheitsapparat mehr Polizei.
Herzchen für Merkel
Gerade testet er einen neuen Begriff: „Schicksalsgemeinschaft“. Das Wort hat seine NRW-CDU in den Leitantrag für den Bundesparteitag hineinverhandelt. Es umschreibt eine Notgemeinschaft, die sich gegen äußere Feinde absichern muss. Spahn meint damit die Deutschen. Ist das ein rhetorischer Kniff, um auf der Populismuswelle zu reiten? Oder denkt so der Politiker Spahn?
An diesem Montagmorgen sitzt aber der zahme Jens Spahn vor dem Laptop. Der sagt nun, Merkels erneutes Antreten sei „definitiv eine gute Nachricht“. Im Wahlkampf 2017 werde es um grundsätzliche Fragen gehen. Es werde Angriffe von links und von rechts geben, da helfe nur Geschlossenheit. Für die stehe die Kanzlerin.
Der Moderator fragt Spahn nach Alternativkandidaten. Spahn weiß, dass ihm da Ambitionen nachgesagt werden. Er lächelt und spricht, es werde sich „im Fall der Fälle schon jemand finden, der bereit und in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen“. Ein bescheidenes Nein klingt anders.
Es steht mittlerweile 127 zu 48 gegen Merkel. Seltsam, während Spahn auf Sendung war, ist der Herzchen-Balken gewachsen. Prozentpünktchenweise. Aber doch: gewachsen.
Flirt mit dem rechten Rand?
Spahn, der Einszweiundneunzig-Mann, bringt es offenbar fertig, dass man ihm zuhört. Linke sagen, er flirte mit dem rechten Rand. Konservative finden, er spreche aus, was viele denken. Zwar steht die Union offiziell hinter der Kanzlerin, aber die Frustrierten, jene, deren Stimmen bei der Bundestagswahl abhandenzukommen drohen, wollen auch abgeholt werden. In München erledigt das Horst Seehofer, in Berlin Jens Spahn. Er hat ein Gespür für Stimmungen und für sein Alter exponierte Positionen an gleich drei Schaltstellen der Macht: im Parlament, in der Parteizentrale und im Bundesfinanzministerium. Er ist 36 Jahre alt, Angela Merkel und ihr engster Kreis sind über 60. Spahn ahnt nicht, er weiß: Seine Zeit kommt.
Erkundigt man sich im politischen Berlin nach Jens Spahn, finden sich einige, die ihn sich als Kanzler vorstellen könnten. Noch nicht jetzt. Aber, hey, warum nicht ab 2017 erst einmal als Innenminister? Law and Order sei ja nicht zufällig sein Lieblingsthema. Andere wiederum sprechen von Spahns „großer politischen Begabung“, gleichwohl sei er oft vorschnell, sein Ehrgeiz zu offensichtlich. Und dann sei da dieses Verkürzen komplexer Inhalte. Nicht jeder kann das ab.
In den Machtzirkel getrotzt
Der gelernte Bankkaufmann sitzt seit 2002 als direkt gewählter Abgeordneter für den münsterländischen Wahlkreis 125 im Bundestag. Bei seiner ersten Plenarsitzung war er 22 Jahre alt. Er hat sich dann über Jahre einen Namen als Gesundheitsexperte erarbeitet. Nach der letzten Bundestagswahl war Spahn als neuer Gesundheitsminister im Gespräch, vielleicht auch als Generalsekretär. Doch Minister wurde schließlich der NRWler Herrmann Gröhe, Chef in der Parteizentrale der Hesse Peter Tauber. Und Jens Spahn aufmüpfig.
2014, auf dem Kölner Parteitag, kandidierte er, entgegen allen internen Absprachen, für einen der Präsidiumssitze. Dabei waren die längst ausgekungelt. In seiner Bewerbungsrede erwähnte er seinen Freund, einen Journalisten. Er wolle, wenn er mit dem durch Berlin spaziert, nicht länger „die Angriffe und die Anmachen erleben müssen, wie ich sie in der Vergangenheit öfter erlebt habe“. Starker Applaus. Spahn gewann den Platz im Machtzirkel nicht nur mit okayen zwei Dritteln der Stimmen, sondern verdrängte auch Parteifreund Gröhe.
Ein Affront in der schläfrigen und hierarchieversessenen Merkel-Partei. Aber ein Affront, der ihm Respekt eintrug. Da traute sich aber einer was!
Und so wirkte es zunächst wie ein Versuch, den Aufmüpfigen einzuhegen, als Finanzminister Wolfgang Schäuble Spahn 2015 als parlamentarischen Staatssekretär in sein Haus holte. Aber Spahn nutzte die neue Position als Chance: Er hat sich reingefuchst, mit Schäuble versteht er sich prima. Von seinem Lehrmeister unterscheidet ihn, dass er auch mal lächelt, wenn er Euro-Begehrlichkeiten Absagen erteilt.
Spahn liebt Eierlikör
Ein Freitagabend im November, Rheine im Münsterland. Wer verstehen möchte, wie dieser Jens Spahn tickt, fährt am besten dorthin, wo Spahn herkommt. In seinem Wahlkreis Rheine I/Borken I schweift der Blick bei Tag über plattes Land, rot verklinkerte Wohnhäuser und Gewerbebauten; am Straßenrand künden Verkehrsschilder: „Traktoren dürfen überholt werden“. Aber jetzt ist es dunkel.
Im Gasthaus Am Thietor drängen sich Spahns Mitarbeiter und drei Journalisten auf der Eckbank. Die Kellnerin stellt ein Tablett Streichwurstbrote auf den Holztisch, mit schönen Grüßen vom Wirt. „Hm, Maurermarmelade!“, freut sich einer. Jens Spahn hätte gern Eierlikör, den liebt er. Gibt es aber nicht. Er nimmt ein Bier. Spahn ist nach Rheine gekommen, weil er wieder in den Bundestag einziehen möchte. Natürlich. Seine Parteifreunde sollten ihn heute zum Kandidaten küren.
Also hatten Spahns Wahlkreismitarbeiter dafür gesorgt, dass ein roter Teppich auslag, auf dem er auf und ab tigern kann. Townhall-Meeting-Atmosphäre im Münsterland.
Er stehe hier schon zum vierten Mal, sagt Spahn zu Beginn seiner vierzigminütigen Rede. 150 Leute hören ihm zu. Schön sei, „wie ordentlich und sauber das hier ist, das ist nicht selbstverständlich“. Die Wirtschaft brummt, es herrscht fast Vollbeschäftigung, für Mütter gibt es das Betreuungsgeld – den Deutschen geht es gut. „Wenn wir’s nicht laut sagen, die anderen werden’s nicht tun.“ Die Männer auf den Stapelstühlen, es sind allermeist Männer, nicken anerkennend.
Jetzt zu den Flüchtlingen. „In den kleinen Dörfern geht dat wirklich gut voran“, lobt Jens Spahn mit Münsterländer Dialekt. Aaaaaaber. Er wird jetzt ernst. „Selbst der engagierteste Helfer hat Fragen.“ Zum Beispiel, warum hier plötzlich lauter Georgier ankommen, wenn man eigentlich Syrern helfen wolle. Deutschland – und jetzt weht ein kühler Berliner Hauch durchs Rund – könne nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen. Das Land brauche wieder „Recht und Ordnung und Kontrolle“, auch eine „Leitkultur“.
Spahn spricht dann noch ganz freundlich über sichere Herkunftsstaaten, über die Grünen im Bundesrat und „annere Kulturen“. Fast klingt das, als glaubte der Abgeordnete Spahn, den Flüchtlingen einen Gefallen zu tun, wenn er sie davon abhält, ins schöne Münsterland zu kommen.
Zum Dank Boxhandschuhe
Jens Spahn ist jetzt fertig. Er sinkt auf seinen Platz: dritte Reihe, rechts außen, rutscht in seinen Sitz hinein wie ein Schuljunge in der S-Bahn. Hat er seine Partei überzeugt? Jens Spahn setzt auf Aufmüpfigkeit. In der Öffentlichkeit klopft er Parolen und nennt sie Meinungen, intern ergreift er Gelegenheiten, die ihm eigentlich niemand angeboten hat. Das ist sein System. Aber lässt sich so Karriere in einer Partei machen – noch dazu in der CDU?
Seine Parteifreunde stimmen ab: 140-mal Ja bei 142 Stimmberechtigten. Jens Spahn lächelt und springt auf. 98,8 Prozent, mehr geht fast nicht. Die Junge Union schenkt ihm Boxhandschuhe, ein Herr sagt: „Kannst nix gegen seggen, er is ja sehr prominent in Berlin.“ Keine Frage, die CDU-Leute hier trauen ihm viel zu.
Auf dem Weg zu den Buffetresten mit den Kochschinken- und Mettwurstbrötchen stellt Spahn der Reporterin einen Gratulanten vor: „Dat ist der Herr Große-Berg, der war mal mein Sportlehrer.“ Interessant. Was war er denn für ein Schüler, der Jens? Klug, ehrgeizig, sagt Franz-Josef Große-Berg. „Er war sicher nicht der beste Turner. Aber er hat’s gemacht, hat sich gequält.“ Der alte Lehrer senkt verschwörerisch die Stimme. „Wussten Sie, dass der Jens in der Abizeitung als Berufswunsch Bundeskanzler eingetragen hat?“ Vom Buffet zwinkert der frisch gekürte Kandidat herüber.
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