Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen: Vorwürfe gegen Parlamentarier
Die Grünen wählen erneut Lisa Paus an die Spitze ihrer Landesliste. Pankows Bundestagsabgeordneter Gelbhaar zieht seine Bewerbung überraschend zurück.
Ursprünglich war eine Kampfabstimmung zwischen ihm und Audretsch erwartet worden, die Kollegen in der Grünen-Bundestagsfraktion sind. Denn auch Gelbhaar hatte eine Bewerbung für Listenplatz 2 eingereicht, auf dem er bereits 2021 antrat. Damals gewann er in Pankow als bundesweit einziger Grüner einen Ost-Wahlkreis. Bei der Teil-Wiederholungswahl im Februar dieses Jahres hatte er gegen den Trend sein Ergebnis noch verbessert.
Ein erneuter Sieg im Wahlkreis Pankow galt daher und angesichts aktueller Umfragen als sehr wahrscheinlich, so dass Gelbhaar keinen sicheren Listenplatz benötigte, um wieder in den Bundestag zu kommen. Doch für Gelbhaar war Platz 2, der erste auf der Grünen-Liste für Männer mögliche Platz, auch ein Zeichen der Wertschätzung Richtung Osten der Stadt
„Mich treibt es um, eine Berliner, eine Ostberliner Perspektive einzubringen“, sagte Gelbhaar der taz wenige Tage vor dem Parteitreffen. Als politisches Vorbild nennt er auf der Internetseite der Bundestagsfraktion keinen Grünen, sondern die verstorbene Brandenburger SPD-Politikerin Regine Hildbrandt, Exministerin und als „Mutter Courage des Ostens“ bekannt geworden.
Überraschender Rückzug von Listenkandidatur
Doch um 10:53 Uhr, sieben Minuten vor dem offiziellen Beginn im Moabiter Tagungshotel, landet eine Nachricht von Gelbhaar im E-Mail-Posteingang der taz und weiterer Journalisten: Er werde nicht für Listenplatz 2 kandidieren, „denn in den letzten Tagen sind Vorwürfe gegen mich erhoben worden.“ Konkreter beschreibt er die Vorwürfe nicht. Das müsse parteiintern geklärt werden und das wolle er jetzt erst klären. „Ich werde aktiv daran mitarbeiten, hier für Klärung zu sorgen.“ Gelbhaar verweist dazu auf „geordnete Strukturen bei der Ombudsstelle in der Bundesgeschäftsstelle“. Diese Stelle sei eine Ombudsstelle gegen sexualisierte Gewalt“, erklärt es der Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Werner Graf, gegenüber der taz.
Als einziger Kandidat für Platz 2 verbleibt so Audretsch, der 2021 auf Listenplatz 4 antrat. Der wäre bei der kommenden Wahl für ihn wacklig gewesen. Die Grünen kamen zwar bei der jüngsten Umfrage im November genau auf ihr Rekord-Wahlergebnis von 2021, als es knapp für sieben Bundestagssitze reichte. Durch die Verkleinerung des Bundestagstag von jetzt 738 auf künftig 630 Sitze blieben davon, wenn es auch am 23. Februar so gut für die Grünen läuft, nur noch höchstens sechs. Der letzte davon wäre alles andere als sicher.
Nach jetzigem Stand könnten die Berliner Grünen wieder drei der zwölf Wahlkreise gewinnen, die weitgehend identisch mit den Stadtbezirken sind: Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und eben Pankow. Damit wären drei weitere Parlamentssitze über die Liste zu besetzen, mit Spitzenkandidatin Paus und zwei weiteren.
Die Frage vor diesem Parteitag war daher: Wer würde auf dem wackligen letzten dieser drei Plätze sitzen? Audretsch, der von Platz 4 auf 2 aufrücken wollte? Oder Nina Stahr, die Ende 2023 auf Bitten der Partei wieder Landesvorsitzende wurde, wie schon von 2016 bis 2021? Sie hatte eine Bewerbung für den für Frauen reservierten Listenplatz 3 eingereicht.
Kampfabstimmung bleibt durch Rückzug aus
Durch Gelbhaars Rückzug von der Listenkandidatur kommt der Landesverband um eine Kampfabstimmung herum, die in mehrfacher Form Fronten in der Partei hätten verhärten können: West gegen Ost, linker Parteiflügel, zu dessen führenden Köpfen Audretsch gehört, gegen Realos.
Hintergründe zu seinem Rückzug von der Kandidatur mag Gelbhaar in seiner E-Mail nicht nennen, weil Vertraulichkeit zentral für das weitere Vorgehen sei. „Daher bitte ich von weiteren Anfragen abzusehen, aus Respekt vor dem Verfahren wie vor mir als Person und meiner Familie“, schreibt er.
Dass es Vorwürfe gegen Gelbhaar gibt, kursiert laut Fraktionschef Graf, dem linken Parteiflügel zuzuordnen, seit Wochenbeginn. Gelbhaars Bewerbungsschreiben für Platz 2 auf der Grünen-Plattform „Antragsgrün“ datiert von Montagmittag um 13:29 Uhr. Üblicherweise gut informierte Vertreter des Realo-Flügels wollen hingegen am Freitag erstmals davon gehört haben.
Als Direktkandidat im Wahlkreis hatten die Pankower Grünen Gelbhaar am 12. November gewählt. Der dortige Kreisvorsitzende sagte damals über die Nominierung: „Stefan Gelbhaar steht für einen aktiven Austausch mit den Menschen vor Ort und für eine klare Haltung zu sozialem Klimaschutz und für zukunftsweisende Investitionen in Mobilität – er ist ein starker Vertreter für Pankow im Bundestag.“
Keine Aufklärung durch Tagungsleitung
Die Grünen-Tagungsleitung am Samstag in Moabit erwähnt den Rückzug nicht, als es um die Besetzung von Listenplatz 2 geht, obwohl die Bewerbung zur selben Zeit noch unter „Antragsgrün“ zu finden ist. Auch Audretsch geht in seiner Bewerbungsrede nicht darauf ein. Er erhält bei einem Meinungsbild, das im Grünen-Landesverband der offiziellen Abstimmung über die Liste voraus geht, ein besseres Ergebnis als die Spitzenkandidatin Paus: Für ihn stimmen knapp 89 Prozent, für Paus nur 76 Prozent. Die Bewerbung der Landesvorsitzenden Stahr unterstützen 83 Prozent.
Ob Gelbhaar seine Bewerbung als Direktkandidat aufrecht hält, bleibt bis Samstagnachmittag offen. Abgabeschluss für Kandidatenlisten und Wahlkreisvorschläge ist erst am 20. Januar. Auch zu hören ist, dass Gelbhaar Freitag geäußert haben soll, er wissen weder, von wem die Vorwürfe stammen noch den konkreten Inhalt. Der RBB zitiert mittags die Grüne-Jugend-Chefin Leonie Wingerath mit der Forderung, Gelbhaar solle auch seine Direktkandidatur zurückziehen. Es sei wichtig, den Betroffenen erstmal Glauben zu schenken und sich darum professionell zu kümmern, gibt sie der Sender wieder.
Der Landesparlamentarier Andreas Otto, wie Gelbhaar aus Pankow und mit ihm von 2011 bis 2017 zusammen in der Abgeordnetenhausfraktion, sieht die Lage anders. „Für mich gilt erstmal die Unschuldsvermutung“, sagt er der taz. „Gut wäre es gewesen, wenn die Ombudsstelle bis 10:59 Uhr (also vor Parteitagsbeginn und folgendem Listenbeschluss, d. taz) schon Ergebnisse hätte vorlegen können.“
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