Bundestagswahl in Berlin: Zwischen Euphorie und Stille
Nach den ersten Prognosen: Die Grüne Julia Schneider hofft, der Linke Ferat Kocak jubelt und bei der SPD wird es kurz sehr still.
Ein paar Momente später könnte man sich fragen, ob es sich bei der zentralen Veranstaltung der Berliner Grünen überhaupt eine ebenjener Partei handelt: Es wird nämlich richtig laut, als es um die Linkspartei geht und deren Balken auf 9 Prozent steigt
In den Führungsriegen der Parteien kennt man zu diesem Zeitpunkt meist die Tendenzen, die Meinungsforschungsinstitute leiten ihre Exit Polls, der Befragungen beim Verlassen des Wahllokals, dorthin weiter. Dennoch sieht das Gesicht des Landesvorsitzenden Philmon Ghirmai just in dem Moment, da die Prognose im Saal zu sehen ist, wie versteinert aus.
Auch die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, scheint schlucken zu müssen. Gleiches bei Co-Chefin Nina Stahr, die auf ein Bundestagsmandat über die Landesliste ihrer Partei hofft. Begeisterung sieht anders aus.
Für Nina Stahr, aber noch mehr für Julia Schneider, die Direktkandidatin in Pankow, stellt sich nun die Frage: Wie wirken sich diese 12 Prozent, die eine knappe halbe Stunde später eine Hochrechnung bestätigt, in ihren Wahlkreisen aus, bei den Erststimmen? 2021 holten die Grünen bundesweit fast 15 Prozent, also fast ein Viertel mehr. Damals hieß der Wahlkreissieger in Pankow Stefan Gelbhaar, 9 Prozentpunkte lag er vor der zweitplatzierten CDU-Bewerberin.
Er steht an diesem Abend kurz nach 18.30 Uhr äußerlich entspannt wirkend vor dem Eingang des Clubs, unterhält sich und trinkt ein „Früh“-Kölsch. Mittlerweile fast komplett in sich zusammen gebrochene Vorwürfe über angebliche Übergriffe brachten ihn um seine Nominierung als Kandidat und das eigentlich für die Grünen sichere Bundestagsmandat.
Würde die Grünen-Anhängerschaft die zwischenzeitliche Abwahl Gelbhaars und die neue Kandidatin Schneider gutheißen? Oder, selbst wenn nicht, zumindest aus Parteiräson für Schneider stimmen, um den Wahlkreis für die Grünen zu halten?
Schneider hatte sich in der letzten Wahlkampfwoche gegenüber der taz optimistisch gezeigt, von großer Motivation, vielen Wahlkampf-Helfer und guter Stimmung gesprochen. Unterschwellig aber kursierten Befürchtungen, Grünen-Anhänger könnten – enttäuscht vom Umgang der Partei mit Gelbhaar – nun SPD oder Linke wählen und damit indirekt die AfD nach vorn bringen.
Hoffen bei der Linken Neukölln
In Neukölln hofft währenddessen Linken-Politiker Ferat Koçak darauf, den dortigen Wahlkreis zu gewinnen – und mit ihm 900 Menschen auf einer bereits vor Tagen restlos ausgebuchten Wahlparty der Bezirks-Linken in einem Veranstaltungssaal südlich des Tempelhofer Feldes. Es wäre bundesweit das erste Direktmandat der Linken in einem West-Wahlkreis.
Um das möglich zu machen, hatte Koçak mit vielen Freiwilligen, die teils extra nach Berlin anreisten, einen intensiven Haustürwahlkampf geführt, insgesamt habe man an 139.000 Türen geklingelt – etwa zwei Drittel aller in Neukölln. In der langen Schlange, die sich vor Öffnung der Türen zur Wahlparty gebildet hatte, war die Stimmung zuversichtlich. Angesichts dieser Zahlen müsste man es eigentlich geschafft haben, so der Tenor.
2021 hatte die Linkspartei nur auf Platz vier gelegen, mit nur rund halb soviel Stimmen wie die dort erfolgreiche SPD. Die bundesweit 8 Prozent, welche die ARD-Prognose der Linkspartei nun um 18 Uhr gibt, lassen Kocak zumindest hoffen. Dass parallel dazu in Treptow-Köpenick Parteiikone Gregor Gysi zum sechsten Mal in Folge gewinnt, ist quasi eingepreist. Hoffnungen macht sich die Partei zudem in Lichtenberg, wo die Bundesparteivorsitzende Ines Schwerdtner kandidiert, sowie in Friedrichshain-Kreuzberg mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Pascal Meiser.
Lange Gesichter bei der SPD in Mitte
Auch beim Treffen des SPD-Kreisverbands Mitte im durchaus ordentlich besuchten Restaurant Supersonico unweit des Mauerparks ist die Stimmung erstaunlicherweise gut. Die Parteilinke Annika Klose, die zusammen mit ihrem Bundestagskollegen Ruppert Stüwe aus Steglitz-Zehlendorf das Spitzenduo der Berliner Sozialdemokrat:innen bildet, hofft hier auf einen Wahlsieg.
„Wir sind überzeugt, dass wir gute Antworten haben“, sagt Klose kurz vor der 18-Uhr-Prognose zu den Wahlkämpfer:innen des selbst für hauptstädtische Verhältnisse noch einmal besonders linken Kreisverbands. Es gehe darum, die Menschen zu überzeugen. „Nur leider gelingt uns das nicht immer.“
In der Tat: Mit den von der ARD prognostizierten 16 Prozent hat die Partei ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren. Als der SPD-Balken auf dem Bildschirm erscheint, herrscht Stille. Jubel kommt nur bei den Werten der FDP und des BSW auf. Beide Parteien bleiben der Prognose zufolge unter 5 Prozent.
Für Klose selbst dürfte es in Mitte am Sonntag noch schwer werden. 2021 hatte Hanna Steinmüller von den Grünen den Wahlkreis mit klarem Vorsprung gewonnen. Das Szenario könnte sich an diesem Sonntag wiederholen. Gefeiert wird trotzdem ein bisschen. Die ehemalige Berliner Jusos-Chefin ist schließlich über den SPD-Landeslistenplatz 2 vernünftig abgesichert.
Immer noch Hoffnung
Die Hoffnung auf das Direktmandat hat sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz aufgegeben. Dass die SPD insgesamt derart abschmiert, hätte sie bereits befürchtet. „Wir sind krachend abgewählt worden“, sagt Klose zur taz. Die Partei könne so nicht weitermachen. „Wenn es am Ende des Wahlabends andere Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gibt als die SPD, dann sollten wir daraus die Konsequenz ziehen.“ Und die hieße dann: Oppositionsbank.
Noch bei der Aufstellung der SPD-Landesliste im Dezember hatte Berlins SPD-Chefin Nicola Böcker-Giannini die Parole ausgegeben, dass die Wahl für die Sozialdemokrat:innen längst nicht gelaufen sei. Damals stand die Partei in Umfragen bei 14 Prozent. „Wie Aufholjagd geht, wissen wir, da macht uns niemand etwas vor“, versuchte sich Böcker-Giannini als Mutmacherin. Geholfen hat es kaum.
Nach der Klatsche am Sonntag sieht Böcker-Giannini ihre Partei am Scheideweg: „Entweder können wir unseren Anspruch, führende Mitte-Links Volkspartei zu sein, glaubhaft unter Beweis stellen und sich entsprechend neu aufstellen oder sie wird bedeutungslos werden.“
Ihr Co-Vorsitzender Martin Hikel kritisiert unterdessen auffällig gnadenlos den vorangegangenen Wahlkampf der eigenen Partei. Das Pokern um die Kanzlerkandidatur, der reine Abgrenzungswahlkampf zur Union und die Form der Migrationsdebatte wären kaum hilfreich gewesen. „Symptomatisch ist, dass die SPD die soziale Gerechtigkeit als ihren Markenkern durch einen egozentrierten Claim ‚Mehr für dich‘ infrage gestellt hat“, so Hikel.
Heterogene Wahlkreisstrukturen
Zahlen aus einzelnen Wahlkreisen hat Berlins Wahlleitung erst für später am Abend angekündigt. Die werden aber in keiner Weise repräsentativ sein: Wenn etwa die ersten ausgezählten Stimmen schwerpunktmäßig aus Neukölln-Nord kommen und dort die Linkspartei vorn liegt, sagt das wenig über Kocaks tatsächliche Chancen.
Der Norden des Bezirks ist ohnehin eine Hochburg der Linken. Doch zum Wahlkreis gehören auch die südlichen Ortsteile um Buckow und Rudow, wo bei der Abgeordnetenhauswahl die CDU stark punktete. Ähnlich verhält es sich in Pankow mit den unterschiedlichen Wählergruppen im grün-affinen Prenzlauer Berg einerseits oder in Französisch-Buchholz im Norden des Bezirks andererseits, wo zuletzt die AfD erfolgreich war.
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