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Bundestagsdebatte über CoronamaßnahmenDie Last der ganzen Gesellschaft

Merkel verteidigt die neuen Maßnahmen, Grüne applaudieren. Die AfD poltert, ein wenig, FDP und Linke wiederholen mit Verve ihre Einwände.

Die Disziplin des ethisch Vertretbaren: Angela Merkel am Donnerstag im Bundestag Foto: Markus Schreiber/ap

Berlin taz | Angela Merkel merkt man am Donnerstagmorgen im Bundestag die Anstrengung der langen siebenstündigen Corona-Sitzung mit den MinisterpräsidentInnen kaum an. Man habe mit dem Lockdown light das Schlimmste verhindert, aber es reiche noch nicht, so die Botschaft.

Die Kanzlerin warnt, sich in falscher Sicherheit zu wiegen, lobt die Bevölkerung für ihre Disziplin und verteidigt nicht ungeschickt das Konzept der Regierung: Weil Wirtschaft und Schulen offen bleiben, muss eben alles andere eingeschränkt werden, auch Geschäfte, für die ähnliche Beschränkungen gelten wie im Frühjahr. „Diese Branchen tragen die Last für die ganze Gesellschaft“, so Merkel.

Es gibt seit langem ein Alternativkonzept, das AfD und FDP favorisieren. Man solle lieber die Risikogruppen schützen und isolieren, und dafür eben Kinos, Sportvereine und Kneipen wieder öffnen. FDP-Fraktionschef Christian Lindner verweist darauf, dass zwei Drittel der Coronatoten in Hessen in Pflegeeinrichtungen gestorben sind. Mit besonderen Einkaufszeiten für die Gefährdeten, Taxigutscheinen und mehr Tests in Pflegeeinrichtungen könne man sich den verschärften Lockdown somit sparen.

Merkel verweist indes auf eine Zahl, die dieses Konzept mit mehr als einem Fragezeichen versieht. Zu den Risikogruppen zählen 27 Millionen BürgerInnen. Die aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten, sei „ethisch nicht vertretbar“. Point taken.

Die AfD klingt wie ein Brandstifter, der die Feuerwehr ruft

Die AfD arbeitet mal nicht mit dem ganz großen Vorschlaghammer. Fraktionschefin Alice Weidel bescheinigt der Regierung „obrigkeitstaatliche Bevormundung“ und hält die Kontaktbeschränkungen auf zwei Haushalt für „ungehörig“. Das ist für AfD-Verhältnisse sachlich. Weidel fordert zudem einen „unaufgeregten Dialog“. Das klingt, angesichts des AfD-Trommelfeuers gegen die vermeintliche Coronadiktatur, so wie der Brandstifter, der nach der Feuerwehr ruft.

Für AfD-Chef Tino Chrupalla ist nicht Corona für die Depression im Land verantwortlich, sondern – wer sonst – Angela Merkel. Doch auch diese Polemik klingt etwas matt. Der AfD fehlt es an agitatorischem Schwung – vielleicht eine Nachwirkung der vehementen Rüffel von allen Seiten, nachdem sie Querdenker-Aktivisten in den Bundestag geschleust hatte.

Für SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sind die Maßnahmen „angemessen, nachvollziehbar und lebensnah“ – das knüpft direkt an den Dreiklang an, mit der Merkel den November-Lockdown begründet hatte: „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“.

SPD und Union ziehen als zentrale Autoren der Verschärfungen für den Dezember natürlich an einem Strang. Dass die SPD sich rhetorisch zur Echokammer der Kanzlerin macht, wirkt ungeschickt. Mit dieser Rolle hat die SPD keine so guten Erfahrungen gemacht.

Dies ist das zweite Mal, dass Merkel im Parlament die neuen Maßnahmen verteidigt. Die Macht haben – auch nach der Novelle des Infektionsschutzgesetzes, das die Rolle des Parlaments aufwerten sollte – de facto die MinisterpräsidentInnen und Merkel, laut Weidel „eine Kungelrunde“.

Die linke Liste der Mängel

Auch Linksfraktionschef Dietmar Bartsch kritisiert dies scharf. „Bei Grundrechtseinschränkungen muss der Bundestag entscheiden, egal wie sehr Sie das nervt“, sagt er Richtung Kanzlerin. Bartsch skizziert, präzise und zugespitzt, die Mängelliste der Regierung, die im Sommer bei Masken, in Pflegeheimen und Schulen zu wenig getan habe und, anstatt Luftfilter für Schulen zu kaufen, mit Milliarden Konzerne gerettet habe. „Jedes Theater hat sich besser auf den Coronawinter vorbereitet als die Bundesregierung.“

Bartschs Rede zeigt, dass es auch in Krisenzeiten möglich ist, harte Kritik zu üben, ohne populistische Muster zu bedienen. Das tut die AfD laufend, die FDP, wenn sie suggeriert, dass die Isolierung der Risikogruppen der Königsweg sei, den Merkel aus bloßem Starrsinn nicht wählt. Die Linksfraktion spielt damit derzeit die Rolle des Oppositionsführers.

Die Grünen machen der Union ein Angebot

Die Grünen applaudieren hingegen als einzige Oppositionsfraktion der Regierungserklärung der Kanzlerin. Sie hatten ebenfalls als einzige Oppositionsfraktion dem Infektionsschutzgesetz der Groko zugestimmt.

Auch die Fraktionschefs von Union und Grünen funken in der Debatte auf ähnlichen Frequenzen. CDU-Mann Ralph Brinkhaus warnt, dass auch der verschärft Dezember-Lockdown „nicht reicht“, und fordert konsequentere Maßnahmen. Anstatt die Pandemie langfristig zu bekämpfen, würde die Bund-Länder-Runde nur „scheibchenweise“ vorgehen.

Der grüne Fraktionschef Toni Hofreiter blies ins gleiche Horn, forderte mehr Planbarkeit und klare Einschränkungen. Für Hotspots mit mehr als 200 Infizierten in sieben Tage pro 100.000 Einwohner müssten bundesweite scharfe Einschränkungen gelten. „Beschließen wir es doch hier im Parlament. Das bieten wir Ihnen an“, so Hofreiter Richtung Union. Die schwarz-grünen Annäherungen sind unübersehbar.

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9 Kommentare

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  • RS
    Ria Sauter

    Shoppen gehen und Weihnachten feiern. Was macht das Virus in dieser Zeit? Es besucht seine Familie und bringt Shoppinggeschenke, damit wir mal Pause haben?

  • „Merkel verweist indes auf eine Zahl, die dieses Konzept mit mehr als einem Fragezeichen versieht. Zu den Risikogruppen zählen 27 Millionen BürgerInnen. Die aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten, sei „ethisch nicht vertretbar“.



    Und das dürfte außerdem gar nicht möglich sein.



    Erwartet eigentlich noch irgendjemand etwas sinnvoll Handfestes von der FDP?



    Die Luftfilter (von den Linken gefordert) in Schulen wünschen sich die Bürger auch, man hätte den Firmen doch schon mal Signale geben können (sind sicher auch nach Corona-Zeit nützlich). Ich habe auch noch nichts von Verbesserungen der sanitären Einrichtungen gehört. Also Schule bleibt weiter auf sich selbst geworfen.

    • @snowgoose:

      "Erwartet eigentlich noch irgendjemand etwas sinnvoll Handfestes von der FDP?"



      Eine seltsame Frage wo doch von den anderen Parteien,insbesondere denen der Regierungskoalition,seit Monaten auch nichts Sinnvolles kommt. Die Zahl von 27 Millionen ist auch sehr willkürlich bzw. Interpretationssache.Man kann "Risikogruppe" auch so definieren,das 100% der Bevölkerung dazu gehören.Oder auch mehr differenzieren. Es würde mich doch bspw. sehr erstaunen wenn über 25% der Deutschen in Pflegeeinrichtungen leben würden:"FDP-Fraktionschef Christian Lindner verweist darauf, dass zwei Drittel der Coronatoten in Hessen in Pflegeeinrichtungen gestorben sind. Mit besonderen Einkaufszeiten für die Gefährdeten, Taxigutscheinen und mehr Tests in Pflegeeinrichtungen könne man sich den verschärften Lockdown somit sparen." Eine Vielzahl von Pflegeeinrichtungsbewohnern werden schon zu "normalen"Zeiten aus dem öffentlichen Leben herausgehalten,mit den Coronaauflagen hat sich diese Zahl vergrößert,ohne das ethische Bedenken dieses unmöglich gemacht haben!

  • 1G
    15833 (Profil gelöscht)

    Im Prinzip haben alle Oppositions Parteien recht.



    Die neuen Regeln sind hirnlos.

    Ein vernünftiges Konzept, Fehlanzeige.



    Und so dürfen weniger Leute in den Supermarkt, ja damit können wir dem Virus besiegen.......

    • @15833 (Profil gelöscht):

      Und Ihr Alternativvorschlag lautet wie?

  • RS
    Ria Sauter

    Die Grünen beklatschen die Kanzlerin. Schon schlimme Zeiten!



    Alles sicher in Coronazeiten?



    Im öffentlichen Nahverkehr nicht. Da werden Schüler und Berufstätige in einen einzigen Waggon gezwängt und der Bahnmitarbeiter drückt die Leute noch rein, damit die Tür schliesst. Auf Nachfrage heisst es, im Nahverkehr wären Sicherheitsabstände nicht nötig.



    Die Empfehlung der Kanzlerin den Öffi zu meiden kann nur derjenige, der andere Möglichkeiten hat. Zum Beispiel diese unsere erste Dame des Landes, die jegliche Sicht auf die Normalos verloren hat.



    Dann klatscht mal schön, ihr Volksvertreter!

    • @Ria Sauter:

      Ich halte mich für einen Normalo.



      Normalerweise fahre ich mit Öffis zur Arbeit, seit ein paar Monaten allerdings nicht mehr.



      Schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe:



      a) ich bin in Öffis nicht mehr gefährdet



      b) ich bin nicht mehr in Öffis unterwegs, was die dortige Auslastung und Gefahrenlage entschärft.

      Kann nicht jeder, klar.



      Aber vielleicht ein bißchen weniger Polemik?

  • "Die Grünen applaudieren hingegen als einzige Oppositionsfraktion der Regierungserklärung der Kanzlerin. [...] Die schwarz-grünen Annäherungen sind übersehbar."

    Anderswo liest sich das so:

    "Meiner naturwissenschaftlichen Intuition folgend wäre ich mal sehr vorsichtig, ob diese Maßnahmen ausreichen werden, damit die Zahlen ausreichend sinken." (Zitat Hofreiter)

    Applaus sieht anders aus.

    Aber vielleicht haben die Grünen ja standing ovations gegeben - in demselben Universum, wo die Straßen bei Trumps Amtseinführung rappelvoll waren.

  • Gott sei Dank gibt es von den Linken ein wenig Widerspruch, dachte schon ich muss demnächst die FDP wählen.