Bundesparteitag in Berlin: Machen Grüne den Unterschied?
Das Programm, das sich die Grünen vorgenommen haben, ist enorm: Umwelt, Klimaschutz, Gerechtigkeit, Freiheit.
Was sagt der grüne Spitzenkandidat zum Tod des Altkanzlers, zu einem konservativen Staatsmann, gegen dessen Politik die Grünen früher protestiert haben? Özdemir, blaues Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, flicht seinen Nachruf nahtlos in seine Rede ein. Kohl habe eine Ära geprägt, ruft er, er stehe für eines der großartigsten Projekte der deutschen Geschichte, die Wiedervereinigung. „In einer Frage haben wir uns in Achtung vor ihm und seinem Lebenwerk verneigt. Er war ein großer Europäer!“. Keine Anbiederung, aber Respekt, Özdemir findet die richtige Mischung.
Die Ziele, die die Grünen-Spitze sich für diese drei Tage im Berliner Velodrom gesetzt hat, sind ambitioniert. Die Grünen, die im Bund bei acht Prozent dahindümpeln, wollen wieder in die Offensive. Angreifen, ab in den Konter, Schluss mit der mauligen Zerrissenheit. Für Özdemir und Göring-Eckardt geht es auch darum, ihren Führungsanspruch zu untermauern. Folgt ihnen die Partei auf dem Kurs, sich alle Regierungsoptionen offen zu halten? Oder sucht sich unterdrückter Frust an der Basis ein Ventil?
Mit der Inszenierung hat sich die Parteitagsregie Mühe gegeben. Özdemir redet vor dem Slogan „Zukunft wird aus Mut gemacht“, den sie bei der 80er-Jahre-Ikone Nena geklaut haben. Auf einer Leinwand leuchten riesige Sonnenblumen, ohne geht es nicht bei der Ökopartei.
Özdemir ruft erstmal alle BundestagskandidatInnen auf die Bühne („Die kämpfen für uns in den Ländern!“). Über 70 Leute stellen sich hinter ihm auf, manche tragen Stühle auf die Bühne. Sie bleiben dort bis zum Schluss, nach Town-Hall-Meeting soll das aussehen. Der am durchsichtigen Redepult rackernde Spitzenkandidat steht da wie eingerahmt.
Alle sind sich einig
Özdemir schaltet schnell in den Wahlkampf-Modus. Er nennt Christian Lindner den „Fred Feuerstein des Industriestandorts Deutschland“. Und er attackiert Merkels und Schäubles Europapolitik. Die Zeit der Arroganz gegenüber den Partnern und Freunden müsse vorbei sein. „Schulmeisterlicher Drill aus Berlin“ mache ihren Erfolg unwahrscheinlicher. Auf einem deutschen Krankenhausflur arbeiteten viele Fachkräfte, die osteuropäische Staaten ausbildet hätten. Deutschland müsse Europa etwas zurückgeben, Solidarität.
Alle jubeln, alle sind sich einig. Özdemir verschweigt die Tatsache, dass die Grünen relevante Entscheidungen der Merkel-Regierung zu Griechenland und Rettungsschirmen im Parlament mitgetragen haben. Das zählt jetzt nicht, es würde die Stimmung kaputt machen.
Das Programm, das sich die Grünen vorgenommen haben, ist enorm. Umwelt, Klimaschutz, Gerechtigkeit, Freiheit, die Delegierten ackern sich bis spätabends durch die Programmkapitel. Neben grünen Klassikern wie der Energiewende spielt auch die Innenpolitik eine große Rolle. Ein eigenes Kapitel am Samstag trägt die Überschrift: „Wir sorgen für Sicherheit und erhalten die Freiheit.“ Die Debatte ist mit einer knappen Stunde eingeplant.
In dem Vorstandsantrag stehen Brocken, die früher Farbbeutelwürfe provoziert hätten. Der Bundesvorstand wirbt zum Beispiel dafür, ein „personell und strukturell völlig neues Bundesamt zur Gefahren- und Spionageabwehr zu gründen“. Das wäre der Tod des bisherigen Verfassungsschutzes mit 17 föderalistisch organisierten Behörden, und es ist nicht weit weg von der Idee des CDU-Innenministers Thomas de Maiziere. Auch Videoüberwachung an Orten mit hoher Kriminalität wollen die traditionell überwachungsskeptischen Grünen in Zukunft gut finden.
Streit beim Kohleausstieg
Dahinter steckt die Furcht der Grünen-Spitze, beim wichtigen Thema Sicherheit eine offene Flanke zu lassen. Göring-Eckardt erzählt in diesen Tagen gerne, dass normale Menschen ein überholtes Klischee von den Grünen im Kopf hätten: Die Grünen sind doch immer noch gegen den bösen Bullenstaat, so wie in den 80ern. Das ist lange her, die Grünen haben ihr Verhältnis zum Staat längst geklärt – und der Parteitag soll diese Botschaft in die öffentliche Aufmerksamkeit rücken.
Streit gibt es beim Kohleausstieg. Der Vorstand empfiehlt, der Linie der Bundestagsfraktion zu folgen, den Ausstieg aus der fossilen Energie innerhalb von 20 Jahren zu fordern. Der Parteitag in Münster beschloss im vergangenen Jahr ein ambitionierteres Ziel, nämlich den Ausstieg bis 2025. Dieser Widerspruch, der im Wahlkampf schwer zu kommunizieren wäre, wird bis Sonntag in die eine oder andere Richtung entschieden.
Özdemir brüllt auf der Bühne: Es gebe eben den Point of no return, der heiße zwei Grad. „Wer da seine Hoffnungen allein auf Merkel setzt, sollte sich eine Schwimmweste kaufen.“ Jubel, böse Spitzen auf die angebliche Klimakanzlerin kommen gut an.
Wenn Özdemir so gut in Form ist wie heute, ist er ein blendender Redner. Als er bessere Gehälter für ErzieherInnen fordert, gestikuliert er so engagiert, dass er sich die Nase von der Brille wischt. Dann kommt doch noch ein heikler Punkt. Wenn die Grünen alles ausschlössen, bleibe am Ende nur die Große Koalition, ruft er. Er vergleicht die frisch verhandelte Jamaika-Koalition mit Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen. „Da kann ich voller Überzeugung sagen: Grüne machen den Unterschied in einer Regierung.“
Übersetzt heißt das: Die Grünen würden dieses Mal gerne auch in Berlin mit den Schwarzen und Gelben koalieren, wenn es passt. Verglichen mit früheren Parteitagen, auf denen sich die Grünen stets zur Nähe zur SPD bekannten, ist das eine kleine Revolution. Auch hier freundlicher Applaus. Die Grünen, das ist nicht zu überhören, stehen hinter ihrem Spitzenmann.
Am Ende hat Özdemir tellergroße Schweißflecken im Hemd. Die Delegierten stehen vier Minuten lang auf, jubeln und klatschen laut, für einen Grünen-Parteitag ist das rekordverdächtig. Özdemir zückt sein Smartphone. Seine Co-Spitzenkandidatin und der niederländische Grünen-Chef und Gastredner Jesse Klaver quetschen sich neben ihn. Dass das Selfie als Wundermittel der politischen Kommunikation schon wieder out ist, hat sich bis zu den Grünen noch nicht herumgesprochen.
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