Bürgerschaftliches Engagement: Sondervermögen Demokratie
Weil die große Politik versagt, wird bürgerschaftliches Engagement vor Ort wichtiger. Aber das muss finanziert werden – von der großen Politik.
W ie wäre es mit 100 Milliarden Euro, um unsere verletzte Demokratie fit für die Zukunft zu machen? Demokratietragende Ideen haben drastisch an Überzeugungskraft verloren. So überzeugt die sozialdemokratische Vision von Gerechtigkeit spätestens seit Hartz IV niemanden mehr. Der Liberalismus, die Vision eines freiheitlichen Miteinanders, hat sich dem staatsskeptischen Neoliberalismus an den Hals geworfen.
Der Konservatismus irrt zwischen Gendern, Patchwork-Familien und Zuwanderung hin und her. Unklar bleibt, wie wir mit Krieg und Frieden umgehen, das Leben auf dem Planeten erhalten und unseren Alltag für eine enkeltaugliche Zukunft einrichten. Aber vor allem sind die institutionellen Grundpfeiler eines demokratischen Austauschs erodiert.
Bei den Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise konkurrieren in zwei Dritteln der Gemeinden lose politisch verknüpfte Dorflisten um Plätze in den Gemeinderäten. Dorfliste 1 gegen Dorfliste 2 gegen 3, manchmal Windkraftgegner, manchmal die Freiwillige Feuerwehr, mitunter die Landfrauen und ganz selten mal jemand von den Parteien, die im Bundestag vertreten sind.
Das zeugt vom Mitgestaltungswillen vieler Menschen vor Ort, die sich zusammenfinden und dann zum Teil aufwändigen Wahlkampf betreiben. Dabei geht es um ganz praktische Fragen: Wann soll das Heimatfest stattfinden? Wie gehen wir mit dem Müll in der Landschaft um? Wo muss Rasen gemäht und wo die Straße ausgebessert werden? Zu entscheiden ist über den Haushalt, der zu kleine Spielräume für zusätzliche Leistungen hat. Die umstrittensten Themen drehen sich um Windeignungsgebiete oder Freiflächen für Photovoltaik.
„Die da oben“ und „die da unten“
Eine gesamtgesellschaftliche politische Meinungsbildung findet durch diese Vereinzelung politischen Engagement indes nicht statt. Mit der Folge, dass mehr und mehr ein „die da oben“ und „die da unten“ entsteht. Doch Gesellschaft wird nicht nur in den Parlamenten gemacht, sondern zu großen Teilen in einem politischen Vorfeld.
Wie wir zusammenleben wollen, wie wir über die Vergangenheit denken und was wir uns für die Zukunft wünschen, verhandeln wir tagtäglich an öffentlichen Orten und durch unzählige Vereine, Bürgerinitiativen, zufällige Begegnungen. Doch durch Umstrukturierungsprozesse in Wirtschaft und Verwaltung wurden Gelegenheiten des Zusammentreffens, des Austauschs geschleift.
Kein Dorfladen, keine Kneipe und die Verwaltung wenigstens eine Stunde Autofahrt entfernt. In vielen Gegenden gibt es keinen ÖPNV, keine Jobs und keine Parteiversammlungen. Und nur die Freiwillige Feuerwehr, ein paar Kaninchenzüchter, Heimatmuseen und unzählige temporäre Initiativen für und gegen dies und jenes.
Ohne Menschen, die im Grunde ständig im Gespräch miteinander sind, gibt es keine demokratische Gesellschaft. Nur zu wählen reicht nicht nur nicht, sondern hinterlässt gigantische soziale Krater, in die Internet, Schwurbler und Faschisten ihren gesamten Mist kippen.
Die Blockierer von der FDP
Das Demokratiefördergesetz, das genau hier dauerhaft Unterstützung leisten sollte, wurde vom Bundeskabinett beschlossen und wird seitdem von der FDP blockiert. Dabei geht es der Obfrau der FDP im Innenausschuss, Linda Teuteberg, um das Begriffspaar „Vielfalt gestalten“. Das sei nur das Einfallstor für bestimmte NGOs – wie beispielsweise die Amadeu-Antonio-Stiftung – „ihre eigene politische Agenda zu betreiben“. Es sei, so Teuteberg, nicht ihre Aufgabe, Gesellschaft zu gestalten, sondern Würde und Rechte zu schützen.
Demnach darf die Zivilgesellschaft nicht den Anspruch haben, mit Steuergeld gefördert zu werden. Wer, wenn nicht die Zivilgesellschaft, darf Anspruch auf das Geld erheben, das sie zu großen Teilen selbst erwirtschaftet? Genau das verspricht die FDP in ihrem Grundsatzprogramm: Vielfalt als Chance für individuelle Selbstentfaltung sowie die Selbstorganisation freier Bürger zu schützen und zu fördern.
Einen Punkt haben die Gegner großer staatlicher Förderprogramme: Die sind wahnsinnig bürokratisch. Im Grunde senden sie vor allem das Misstrauen gegenüber jenen, die Ideen haben, sich vor Ort zu engagieren. Da müssen Zielgruppen benannt werden, die für viele gar nicht erkennbar sind. Da werden Förderthemen kreiert, die von der Realität vor Ort weit entfernt sind und später vom Bundesrechnungshof überprüft und am Ende mit der Feststellung bewertet werden, dass die zugesagte Wirkung ausgeblieben ist.
Die Fragen aber, die den Menschen vor Ort unter den Nägeln brennen, bleiben liegen. Hier könnte der Liberalismus mal seine Überzeugungen und Stärken zeigen: Nehmt die Hürden weg und lasst die Bürger frei entscheiden! Die Sozialdemokratie könnte die Empathie für jene einbringen, die sich gegen diesen autoritären Wahnsinn mit aller Kraft stemmen. Und der Konservatismus könnte für Dauerhaftigkeit sorgen, um aus der grassierenden Projektitis aussteigen zu können.
Ein eigenes Budget für jedes Dorf und jeden Stadtteil
Das kann so organisiert werden, wie die Freiwilligen Feuerwehren organisiert sind: Es gibt sie in jeder Gemeinde und diese muss die Mittel dafür bereitstellen. Solch eine Art Katastrophenschutz gegen Verwahrlosung und für Zusammenhalt brauchen wir jetzt. Jedes Dorf, jeder Stadtteil muss eine Art Budget haben.
Wenn sich dann einige Leute zusammentun, dann erhalten sie die nötige Unterstützung für ihre Ideen, wie die Feuerwehren Helme, Schläuche, Fahrzeuge. Und ja, diese Leute gibt es, in beinahe jeder Stadt, jedem Dorf. Vermutlich werden 100 Milliarden Euro nicht reichen, um das zu finanzieren, aber es sollte reichen, um langfristig wieder Leben in die Bude Bürgergesellschaft zu bringen.
Erfahrungen zeigen, dass sich die Leute ins Zeug legen, wenn sie Sinn und Anerkennung erhalten für das, was sie tun. Die Hebelwirkung ist entscheidend: Der Staat gibt den Bürgern Geld und Freiraum – und die Leute zahlen es mit Demokratie zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe