Bürgerräte als neues politisches Mittel: Reale oder gefühlte Partizipation
Bürgerräte sollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Fraglich ist nur, ob echte Teilhabe in Massendemokratien überhaupt möglich ist.
![Eine Hand greift nach kleinen Würfeln, auf denen Personen schematisch dargestellt sind Eine Hand greift nach kleinen Würfeln, auf denen Personen schematisch dargestellt sind](/picture/7134407/624/35860096-1.jpeg)
Wer bestimmt über tatsächliche Teilhabe an Entscheidungen? Foto: imago
Steffen Mau brachte sie kürzlich wieder in die Diskussion ein: Bürgerräte. Vor allem im Osten könnten sie politisch sinnvoll sein. Aber nicht nur dort – überall, wo die grundlegende Unzufriedenheit mit der Demokratie, die Entfremdung von den Institutionen, die soziale Wut bekämpft werden sollen, werden sie aus dem Hut gezaubert: Bürgerräte als neues politische Mittel gegen jenes Unbehagen, das den Rechten Aufwind verleiht.
Obwohl – so neu ist diese Vorstellung gar nicht. Seit der „partizipatorischen Revolution“ in den 1970er Jahren gilt diese Art der politischen Beteiligung als demokratisches Allheilmittel. Immer wenn es früher in Diskussionen um demokratische Teilhabe ging, erzählte jemand mit leuchtenden Augen von munizipalen Partizipationsmodellen in Südamerika. Da würde ein ganzer Ort zusammenkommen und gemeinsam entscheiden.
Die Vorstellung einer Vollversammlung aller Bürger, die gemeinsam über ihre kollektiven Angelegenheiten entscheiden, in der jeder zu Wort kommt ist zweifellos eine schöne Vorstellung. Aber sie geht an der Realität einer Massendemokratie vorbei. Man muss also die Frage stellen: Ist Partizipation unter den Bedingungen einer Massengesellschaft überhaupt möglich?
Entscheidend für diese Frage ist, dass nie klar unterschieden wird: Geht es bei Bürgerräten um eine reale Partizipation oder eine bloß gefühlte? Geht es um die objektive Realität der Entscheidungen, der harten Fakten, der messbaren Resultate? Oder geht es um die subjektive Realität der Partizipation – also das Gefühl, gehört und anerkannt zu werden?
Vernachlässigte Unterscheidung
Es ist kein Zufall, dass diese Unterscheidung vernachlässigt wird. Denn sowohl eine tatsächlich kollektive Entscheidungsfindung (vor allem auf lokaler Ebene) als auch die bloße „Befriedigung jenes prickelnden Triebs, seine eigene Meinung zu sagen“, wie Hegel es sehr anschaulich nannte – beides wird rein instrumentell verstanden: als Mittel, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.
„Bürgerräte erhöhen nachweislich die Zufriedenheit mit der Demokratie“, wie etwa der Politologe Marcel Lewandowsky kürzlich in der taz ungewollt verräterisch meinte. Verräterisch, denn damit wird allein die subjektive Zufriedenheit zum Ziel.
Genau in diese Kerbe schlug auch Emmanuel Macron anfangs mit seinem Konzept zur Erneuerung der Demokratie: Diese sollte an einer Neugestaltung der politischen Kommunikation mit den Bürgern genesen. Dazu dienten seine vielen Treffen überall im Land. Bürgerversammlungen im wahrsten Sinne, um die Leute vor Ort zu Wort kommen zu lassen.
Der Effekt dieses Konzepts ist nicht die tatsächliche Teilhabe an Entscheidungen, sondern etwas anderes: Diese Vorstellung einer massentauglichen direkten Demokratie bedarf einer Art von Räumen, die in klassischen Parteien nicht vorgesehen sind. Sie braucht Foren, wo Leute gehört werden, wo sie zu Wort kommen – das bedeutet immerhin eine gewisse Öffnung. Aber ohne dass damit eine reale Teilhabe an Entscheidungen einherginge.
Begegnung der Verschiedenen
Dieser neue Resonanzraum erschöpft sich also nicht in dem subjektiven Gefühl zu partizipieren – es ist auch ein neuer Ort der Begegnung. Denn anders als in Bezirksgruppen oder Parteisektionen treffen sich da nicht einfach Parteigenossen, um sich als Gleiche zu bestätigen – sondern vielmehr ganz verschiedene Einzelne.
Und genau an solchen Orten für die Verschiedenheit mangelt es. Und dennoch haftet solchen Bürgerräten etwas Therapeutisches an. Dass das nicht reicht, zeigt das Beispiel Macron.
Der Aufstand der „Gelbwesten“ hatte ihm seine Botschaft in verkehrter Form zurückgeschleudert. Denn die „Gelbwesten“ hatten Partizipation ganz anders buchstabiert: nicht als Dialog, sondern als vehementes Aufbegehren. Und selbst darauf reagierte Macron mit einem „grand débat national“, einer nationalen Debatte: Leute sollten landesweit ihre Beschwerden artikulieren und deponieren. In Gesprächskreisen, Beschwerdeheften und Wunschzetteln. Eine nationale Gesprächstherapie – die ganz offensichtlich fehlgeschlagen ist.
Leser*innenkommentare
fifaltra
Hier geht meiner Meinung nach etwas durcheinander, was der Ist-Zustand ist und was die Idealvorstellung der Befürworter wäre.
Momentan ist es tatsächlich oft eher Show oder eine Art Pilotprojekt wenn es gut läuft. Man traut der Sache nicht, also lässt man eine Empfehlung und keine Entscheidung aussprechen. Wenn es ganz schlecht läuft, ignorieren die Politiker diese Empfehlung, weil sie nicht ins eigene Parteiprogramm passt.
Bürgerforen, wo "jeder mal seine Meinung sagen darf", sind ja nochmal was völlig anderes und gehören mMn nicht zur Diskussion von Bürgerräten.
Meine Idealvorstellung einer Bürgerräterepublik wäre: Es steht in der Verfassung, bei welcher Art von Fragen Bürgerräte einzuberufen sind.
Politiker sind eher Manager, die die Bürgerräte organisieren und tagesaktuelle Dinge entscheiden.
Man ist statistisch einmal im Leben in einem nationalen Bürgerrat, und entsprechend öfter auf Landes- und Gemeindeebene.
Das wäre aber natürlich demokratisch zu entscheiden, ob wir da überhaupt hin wollen.
Lowandorder
Ja wie? Wat issen nu wieder ditte - wa!
War doch mal JAF JAF “Chefinnensache“
Der Großmeister der Demokratie! Gell
Unser Briefumschläge-Bimbes-Dipl.Ing
Wolfgang Mielke auf Rädern - Buddy Schäuble - inne taz! Wollnichwoll
& gepuffen öh gepfiffen! =?
Schnackeldidackel - NIX ZÉRO NÜSCHT !
Wär doch so leicht gewesen! Gellewelle!
www.buergerrat.de/...schaft-schaeubles/
kurz - unser aller Räte-ab 🪂 herrschaftsgezeiten - ☔️ 🌂 - Wölfie!
Ja vermutlich ist dem “wer anderes verlangt, dann tret ich zurück!“graddoch
dieses schmale Bändchen nachträglich in die Hände gefallen! Newahr
“Brecht dem Schütz die Gräten
alle Macht den Räten"
Die Rätebewegung - historische Inspiration und
alle Macht den Räten"
Die Rätebewegung - historische Inspiration und theoretische Bürde der 68er-Betorgung theoretische Bürde der 68er-Bewegung (by ZVAB;)
Na Mahlzeit - Volker hör die Signale - 🙀🥳
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Miles Parker
Wenn's demokratisch hilft, schadet doch nicht.
Sam Spade
Das instrumentelle Verstehen von Seiten der Politik ist das Problem bei der Angelegenheit. Politik möchte aktive Teilhabe an demokratischen Prozessen sich gleichzeitig aber nicht ins Handwerk pfuschen lassen.
Übersehen wird dabei, dass die Bürger vor Ort, sei es in den Stadtteilen der Großstädte oder in den Dörfern, mit den lokalen Gegebenheiten vertrauter sind als die örtlichen Politiker.
Daher wäre es wünschenswert, wenn bei lokalen Bürgeräten der kollektiven Entscheidungsfindung eine bindende Verpflichtung der Politik zur Umsetzung eingeräumt würde.
Alles andere würde nur dem Motto folgen "Gut das wir einmal darüber geredet haben".
Nafets Rehcsif
@Sam Spade Und wenn vor Ort beschlossen wird, dass man keine Windräder und keine Geflüchteten haben will?
fifaltra
@Nafets Rehcsif Wenn man auf nationaler Ebene beschlossen hat, dass jedes Dorf das individuell per Bürgerratsentscheid entscheiden darf, dann ist das dann so.
Schlauer wäre es natürlich, es entweder nicht lokal zur Abstimmung zu stellen, wenn es nationale Konsequenzen hat, oder die Bürger jeweils vor die (ja auch reale) Entscheidung zu stellen: Windräder oder höherer Strompreis, Geflüchtete oder Ausgleichszahlungen an andere Gemeinden, die Geflüchtete aufnehmen etc...
Auf dieser Grundlage könnte sich dann jede Gemeinde entscheiden.
Sam Spade
@Nafets Rehcsif Erstens kommt es immer darauf an, welche Punkte zur Abstimmung kommen. Bürgerat bedeutet ja nicht Politik stellvertretend für die Politiker zu machen. Sondern hat eher etwas mit Feinjustierung zu tun.
Zweitens genau diese Argumente spiegeln die Befürchtung der Politik wider, die vielerseits ja auch bezweifelt es in der Breite mit mündigen Bürgern zu tun zu haben, die in der Lage sind ausgewogene und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
PeterArt
Wir brauchen keine Ersatzparlamente, in dem die üblichen Adabeis mit zu viel Freizeit die Entscheidungen gewählter Repräsentanten unterlaufen. Wer mitentscheiden will, sollte sich in die dafür verfassungsgemäß vorgesehenen Gremien wählen lassen. Und ja, das ist anstrengend.
Miles Parker
@PeterArt Ein Bürgerrat ("Sortition") fördert echte Bürgerbeteiligung, indem sie zufällig ausgewählte Menschen einbezieht, die die Vielfalt der Gesellschaft besser repräsentieren. Das sorgt für frische Perspektiven und verringert den Einfluss von Karrieristen. Es geht nicht darum, Entscheidungen zu unterlaufen, sondern Demokratie zu stärken und die Distanz zwischen Politik und Bürgern zu verringern.