Die Skyline von Chicago bei Sonnenaufgang

Chicago ist die drittgrößte Stadt der USA. Kann man hier auf die Polizei verzichten? Foto: imago

Bürgermeisterwahl in Chicago:Gute Kinder, böse Stadt

695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt? Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.

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4.4.2023, 08:17  Uhr

Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein 9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.

Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu zeigen.

In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood erlebt man es.

Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt, spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.

Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.

Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.

Die Aktivistin Camiella Williams

Ihre erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren Foto: Foto: Lukas Hermsmeier

„An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als sie.

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Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen die drittgrößte Stadt der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen. Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv wahrgenommen.

Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.

Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“ eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.

2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59 Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Ein­woh­ne­r*in­nen von Chicago unsicher.

Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt – der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern im Gegenteil, so viele Be­am­t*in­nen wie möglich durch Sozialarbeiter*innen, The­ra­peu­t*in­nen und Leh­re­r*in­nen ersetzen will.

Linker Wandel oder Recht und Ordnung?
Brandon Johnson, Bürgermeisterkandidat, schüttelt Hände von möglichen WählerInnen

Manchmal habe er Angst, seine Kinder draußen spielen zu lassen, sagt Brandon Johnson, der Bürgermeister werden will Foto: Foto: Brian Cassella/Chicago Tribune/Newscom/picture alliance

Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn seine Kinder draußen spielen.

„Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich daran, dass wir das Problem lösen“.

Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen, die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende weitere Po­li­zis­t*in­nen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen Wäh­le­r*in­nen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.

In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen. Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei „mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.

Es funktioniert

Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik. Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.

Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben, mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den kommenden Jahren 100.000 neue Po­li­zis­t*in­nen eingestellt werden.

In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen. Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck. Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.

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Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind. Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.

Superintendent Eric Ramos und die kommunistische Stadträtin Rossana Rodriguez, er legt freundschaftlich die Hand auf ihre Schulter

Superintendent Eric Ramos und die kommunistische Stadträtin Rossana Rodriguez Foto: Foto: Lukas Hermsmeier

Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem, sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.

GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste, unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein, dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.

Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Ak­ti­vis­t*in­nen weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“

Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“, wie sie im Rückblick sagt.

Die Bewegung ist stark

Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein 14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste, dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte. Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.

Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube an eine Reform der Polizei war damals noch da.

„Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute sind zum Glück radikaler.“

Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.

Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname, diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt, Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die politische Bildung anbieten und Ak­ti­vis­t*in­nen trainieren. Auch Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.

Brandon Johnson, Bürgermeisterkandidat für Chicago

„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren in die Menschen“

Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19. Jahrhundert, als dort Zehntausende Ar­bei­te­r*in­nen für einen Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben. So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende Leh­re­r*in­nen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und damit der amerikanischen Ar­bei­te­r*in­nen­be­we­gung Schwung verpassten. In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.

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Als Johnson und Vallas Mitte März in einem dicht besetzten Saal der University of Illinois im Zentrum Chicagos über öffentliche Sicherheit diskutieren, wird der Unterschied zwischen den Kontrahenten sofort sichtbar.

Johnson schwingt sich locker auf die Bühne, deutet mit dem Zeigefinger ins Publikum, hey, hey, hey. Er ruckelt sich auf einer Mischung von Barhocker und Dekostück zurecht, was gar nicht so einfach zu sein scheint. „Kann mal jemand einen Stuhl für die arbeitende Klasse bringen?“ Die Leute lachen.

„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren in die Menschen“, sagt Johnson und nennt zwei Rechtsverordnungen, die er als Bürgermeister durchsetzen will, durch Steuererhöhungen für Reiche finanziert: Im „Peace Book“ steht, dass vom 2 Milliarden Dollar schweren Polizeibudget 35 Millionen abgezogen und in Jugendprogramme gesteckt werden. Die „Treatment Not Trauma“-Gesetzesinitiative hat das Ziel, geschlossene psychiatrische Einrichtungen wieder zu eröffnen und eine neue Krisenhotline einzuführen.

Vallas wirkt dagegen blass und verbissen, er redet zu schnell und verhaspelt sich oft. Immer wieder spricht er von „Community“, doch das kauft ihm hier niemand ab. Die rund 2.000 Zu­schaue­r*in­nen bestrafen Vallas’ Forderung nach mehr Polizei mit Unmut.

Nimmt man nur diesen Abend zum Maßstab, müsste Johnson am 4. April haushoch gewinnen. Doch die Stimmung im Saal der Uni spiegelt die Stimmung in der Stadt nur bedingt wider. Vallas lag bei der ersten Wahl im Februar schließlich vorne, in aktuellen Umfragen liegen die beiden Kopf an Kopf. Ein Großteil der Bevölkerung unterstützt zwar deutliche Reformen. Für eine Abschaffung von Polizei und Gefängnissen finden sich aber keine Mehrheiten.

Noch nicht, sagen Aktivist*innen.

Wer sich in den USA gegen Polizei und Gefängnisse einsetzt, hat viele Gegner. Einer davon ist die amerikanische Geschichte. Man hat es mit Jahrhunderten zu tun, in denen diese Institutionen physisch und ideologisch in der Gesellschaft verankert wurden. Man ist mit einer „Kultur der Kontrolle“ konfrontiert, wie der Kriminologe David W. Garland die Kombination von neoliberaler Austeritätspolitik, Solidaritätszerfall und Vergeltungsmentalität nennt. Man muss auch dagegen ankämpfen, dass viele Reformen in den vergangenen Jahrzehnten die Straf-und-Überwachungslogiken in andere Bereiche wie die Bildung übertragen haben. Niemand Geringeres als der jetzige Bürgermeisterkandidat Vallas führte in den 1990er Jahren eine „Null-Toleranz-Regel“ für Chicagos Schulen ein: Wer Ärger machte, wurde schnell suspendiert. Auch die Zahl der Cops in den Schulen ist gestiegen.

„Wir leben in einer Strafgesellschaft“

Die wohl größte Herausforderung für die abolitionistische Bewegung könnte jedoch darin liegen, verlässliche Sicherheitsstrukturen jenseits der jetzigen Institutionen zu entwickeln. Wen ruft man an, wenn man bedroht wird? Wie schützt man Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden? Wie könnte ein System aussehen, in dem Täter Verantwortung übernehmen? Will der Abolitionismus Mehrheiten, muss er für diejenigen funk­tio­nieren, die primär unter Gewalt leiden: arme und nichtweiße Menschen, Frauen und Queers.

Abolitionistische Organisationen haben in zahlreichen US-Städten bereits Verfahren der „restaurativen Gerechtigkeit“ entwickelt. Was das bedeutet? Statt Gewalttäter wegzusperren, nehmen sie an langfristigen Programme teil, zu denen psychologische Betreuung, Community-Arbeit und Gesprächskreise gehören – oftmals mit den Opfern, wenn diese dazu bereit sind. Laut Studien ist die Rückfallquote bei solchen Bedingungen deutlich geringer. Ein großer Teil der Opfer sagt, dass sie am Ende der Verfahren ein Gefühl von wirklicher Gerechtigkeit spüren.

In den USA gibt es zudem auch immer mehr Politiker*innen, die sich zur abolitionistischen Bewegung zählen. Robin Wonsley ist eine davon, sie sitzt im Stadtrat von Minneapolis. Tiffany Caban eine andere, sie ist Teil des Parlaments von New York City. In verschiedenen Städten, unter anderem in Philadelphia, sind Bezirksstaatsanwälte im Einsatz, die zwar keine Abschaffung des derzeitigen Apparats wollen, aber immerhin Strafmaße verringern und Drogen entkriminalisieren.

Wie es aussehen könnte, wenn die Regierung selbst Abolitionismus betreibt, kann man im Norden Chicagos beobachten – zumindest im Kleinen. Dort, im 33. Wahlbezirk, wo rund 55.000 Menschen leben, wurde 2019 die Kommunistin Rossana Rodriguez zur Stadträtin gewählt. Sie hatte sich in den Jahren zuvor einen Namen als Community-Organizerin und Leiterin eines lokalen Theaters gemacht. Um sich herum hat Rodriguez nun ein Team von Linken, das auf unorthodoxe Weise den Bezirk führt.

„Wir leben in einer Strafgesellschaft“, sagt einer aus diesem Team, Eric Ramos, „und da kommen wir nur dialektisch raus.“ Heißt: Schritt für Schritt aus der alten Welt das Neue entwickeln.

Der 33-jährige Ramos ist seit Herbst Superintendent des Bezirks, eine Art Hausmeister für alle also. Früher war diese Position Prestige, erzählt er. Heutzutage weiß kaum noch jemand, dass es sie gibt. Ramos, der zuvor als Stahlbauarbeiter arbeitete, interpretiert den Job des Superintendenten anders als seine Vorgänger: aktiver, sorgender, politischer.

Ramos ist der Staat

Zu seiner Arbeit gehört einerseits Bürokratie, zum Beispiel vermittelt Ramos zwischen Behörden wie der Müllabfuhr und dem Schneedienst. Der andere Teil seiner Arbeit ist eine Form von Beziehungsarbeit. Ramos fährt mit seinem weißen Truck durch den 33. Bezirk und schaut, wo er versöhnend eingreifen kann, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Er kümmert sich, wenn Nachbarn heftig streiten, versucht die Rechte von Mie­te­r*in­nen durchzusetzen. Er besucht Häuserblocks, wenn es dort eine Schießerei gab, um zu fragen, wie es den Leuten geht. Und er wird irritiert angeschaut, wenn er das tut. Von der Verwaltung sind sie so etwas nicht gewöhnt.

Besonders wichtig ist Ramos der Kontakt zu den obdachlosen Menschen in seinem Bezirk. „Wer auf der Straße lebt, wird kriminalisiert“, sagt er. „Nach dem Gesetz darf es obdachlose Menschen gar nicht geben.“ Als im Februar ein junger, wohnungsloser Mann namens Russell starb, fand Ramos in dessen Handy, das er ihm besorgt hatte, nur einen gespeicherten Kontakt: „Es war meine Nummer.“

Man könnte nun einwenden, dass Ramos das macht, was unzählige Ehrenamtliche auch machen. Sie helfen, wo der Staat versagt. Was also ist hier besonders? Der Unterschied liegt darin, dass Ramos gerade der Staat ist.

Als Teil der Bezirksverwaltung steht sein Job unter demokratischer Kon­trol­le, er wird vernünftig bezahlt und ist weder von Einzelspenden noch von Fördergeldern abhängig. In dieser Position, vor allem wie Ramos sie interpretiert, zeigt sich also nicht weniger als eine neue Idee von Staat. Weg von einer Politik des Kontrollierens und Bestrafens, die die USA schon so lange prägt. Hin zu einer Politik, die Gewalt tatsächlich ernst nimmt.

Genau in diese Richtung will Bürgermeisterkandidat Johnson nun mit der ganzen Stadt. Beim Forum zur öffentlichen Sicherheit vor ein paar Wochen versprach er, Chicago zum Vorreiter zu machen – und definierte damit gleich mal die Fallhöhe. „Wenn wir das hier in Chicago schaffen“, so Johnson, „schaffen wir es überall.“

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