Bürgermeister über Aufnahme Geflüchteter: „Nicht bloß zusehen“
Rottenburg ist ein „sicherer Hafen“ für Geflüchtete. CDU-Bürgermeister Stephan Neher erklärt, warum die Stadt sich dem „Seebrücke“-Bündnis angeschlossen hat.
Herr Neher, wie kam es dazu, dass sich die Stadt Rottenburg am Neckar entschieden hat, Teil der Initiative zu werden?
Stephan Neher: Wir kannten damals alle die Bilder, die vom Mittelmeer über die Medien zu uns kamen. Salvini hatte jedem Schiff die Einfahrt verweigert, was zu dramatischen Zuständen auf den Schiffen und auf dem Mittelmeer führte. Damals sagten wir uns: „Wenn Europa nicht zusammenfindet, wenn Regierungen und Innenminister sich nicht einigen, dann braucht es ein Signal von kommunaler Ebene, dass wir dieses Vorgehen nicht unterstützen können“. Da wir Kommunen deutlich mehr Kapazitäten zur Aufnahme Geflüchteter haben, als die Regierung verbreitet, haben wir uns zusammengeschlossen.
Was hat Sie persönlich als CDU-Politiker dazu bewegt?
Ich selbst habe darüber hinaus einen persönlichen Bezug zur Initiative: Ein früherer Redakteur der Rottenburger Tageszeitung war Kapitän auf einer Seawatch und schlug uns die Initiative vor, da sich die Stadt bereits 2015 sehr in der Unterbringung von Geflüchteten engagierte.
Wie breit ist die Unterstützung der Rottenburger*innen für diese Initiative?
Wir haben diesbezüglich im Januar 2019 einen einstimmigen Beschluss für unseren Beitritt zur Initiative im Stadtrat gefasst. Innerhalb der Gesamtstadt, in den Kirchengemeinden und von den Vereinen wird die Initiative mit unterstützt.
Wie viele Geflüchtete könnte Rottenburg aufnehmen?
Ich tue mich mit Zahlen immer etwas schwer. Menschenrechte kennen keine Zahlen – solange es um die Einhaltung der Menschenwürde geht, muss man so viele Anstrengungen wie möglich unternehmen, um den Menschen helfen zu können. Vor zwei, drei Jahren haben wir teilweise 1600 Menschen aufgenommen. Davon ist nur noch die Hälfte dauerhaft bei uns. Daher haben wir ausreichend Kapazitäten.
Stephan Neher, CDU-Politiker und Oberbürgermeister von Rottenburg am Neckar.
Wie würde die Aufnahme der Geflüchteten konkret ablaufen?
Wir können die bestehenden Unterkünfte in Rottenburg nutzen. Das hat die letzten vier Jahre auch gut funktioniert. Unsere Schulen und Kindergärten haben ebenfalls Kapazitäten für Geflüchtete frei.
In Baden-Württemberg werden seit 2017 wieder vermehrt Flüchtlingsunterkünfte abgebaut. Wie passt das mit Ihrer Forderung zusammen?
Leerstehende Einrichtungen kosten natürlich Geld. Wenn diese nicht benötigt werden, bauen wir sie sukzessive ab. Ich kann nur für unseren Landkreis sprechen – wir behalten uns immer einen gewissen Puffer an Unterbringungsmöglichkeiten vor, sodass wir relativ schnell reagieren könnten. Wir sind deswegen auf jeden Fall besser aufgestellt als vor ein paar Jahren, weshalb sich die Situation von 2015 so auch nicht wiederholen wird. Aber den Abbau komplett zu stoppen und die Kapazitäten bis ins Ungewisse aufrechtzuerhalten, macht meines Erachtens derzeit keinen Sinn. Trotzdem könnten die derzeit geschlossenen Unterkünfte bei Bedarf meist recht schnell wieder geöffnet werden.
Das Bundesinnenministerium bewilligt eine solche Aufnahme momentan jedoch nicht. Sind Sie frustriert?
Das frustriert mich auf jeden Fall. Ich verstehe nicht, wieso wir keinen stärkeren Zusammenschluss zwischen Bund und Ländern schaffen. Gerade angesichts der Tatsache, dass sich beispielsweise Finnland und Frankreich schon dazu bereit erklärt haben, geflüchtete Menschen aufzunehmen, würde es Deutschland sicherlich guttun, nicht nur in Wirtschaftsfragen europäischer Vorreiter zu sein, sondern auch in Aspekten der Menschenwürde.
Wie können Sie Ihrerseits als Kommune Druck auf den Bund ausüben?
Am Mittwoch haben wir beispielsweise einen Appell an die Bundesregierung gesandt, in dem unter anderem die Städte Köln, Potsdam und Düsseldorf dabei sind. Der Appell wird parteiübergreifend formuliert. In erster Linie geht es uns um humanitäre Hilfe: Einerseits müssen vor Ort schnellstmöglich menschenwürdige Umstände geschaffen werden, andererseits müssen aber vor allem für Minderjährige Strukturen in der Stadtgesellschaft geschaffen werden, um diese aufnehmen zu können.
Wie positionieren Sie sich zu derzeitigen Stimmen aus der CDU? Insbesondere zu Ursula von der Leyens Auftritt in Griechenland, die ja keine Kritik am griechischen Vorgehen äußerte…
Grundsätzlich ist der Weg einer einheitlichen europäischen Lösung der richtige. Das müssen wir auch mit aller Kraft unternehmen. Nun sagen aber viele, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Seit 2015 ist aber auch einige Zeit vergangen, in der man daran hätte arbeiten können, dass nun auch andere europäische Staaten bereit wären, Menschen aufzunehmen. Diejenigen, die eine grundsätzlich ablehnende Haltung haben, wird man vermutlich nicht sofort umstimmen können. Aber meines Erachtens können ein Kontinent und vor allem ein Land, die in anderen Belangen Menschenrechtsverletzungen anprangern, jetzt nicht bloß zusehen. Ist man selbst einmal gefragt, muss man sich auch daran messen, was man von anderen verlangt.
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