Bürgerengagement und Kirchenasyl: 30 Quadratmeter Deutschland

Zwei tschetschenische Familien landen nach langer Flucht in einem Ort in Franken, dann kommt der Abschiebebefehl. Wie Bürger ihre Ausweisung verhindern.

Ein Teil der Flüchtlingsfamilien mit ihren Unterstützern aus Dingolshausen. Bild: Michael Mößlein / Main-Post

DINGOLSHAUSEN taz | Mit einem Blumenstrauß in der Hand, Schokolade, Brot und Salz klingeln Sigrid Fessel-Walter und Christine Heberle an einem heißen Juliabend 2013 an der Tür des Hauses, das so lange leerstand. Mitten in Dingolshausen, einer fränkischen Kleinstadt mit 1.300 Einwohnern, unweit von Schweinfurt.

Fremde sind in das Haus eingezogen, Tschetschenen. Die Männer der Familien schauten immer so finster, haben ihnen die Nachbarn erzählt. „Finstere Blicke“, sagt Sigrid Fessel-Walter heute, eine große Frau mit knallroter Brille und dunklen Haaren, mit etwas Spott in der Stimme: „Mir war sofort klar, dass diese Bemerkung Unsicherheit und Unbehagen ausdrückt. Wir wollten selbst sehen, wer die Neuen sind.“

Es sind zwei Flüchtlingsfamilien aus Tschetschenien, die Mitte Mai in Dingolshausen eintreffen. Der 38-jährige Milan und seine schwangere Frau Malika mit ihren vier kleinen Kindern; der 26-jährige Magomed mit seiner Frau Zarina. Zarina ist 18 und ebenfalls schwanger. Sie hat schweres Rheuma, ihre Finger und Arme sind völlig verkrümmt. Das junge Paar hofft in Deutschland auf medizinische Behandlung für sie. Milan wiederum wurde in Tschetschenien verfolgt und gefoltert. Selbst in Deutschland hat er noch Angst, dass ihn die Foltertrupps aufspüren. Deswegen heißen alle Flüchtlinge in diesem Text anders als in Wirklichkeit.

Beide Familien, die sich vorher nicht kannten, haben eine lange Flucht hinter sich. Mit dem Zug reisen Milan, Malika und ihre Kinder über Moskau nach Weißrussland. Eines frühen Morgens erreichen sie Terespol, die heilige Grenze nach Polen. Es ist kalt, die Mückenschwärme am Flussufer sind unerträglich. Nach vier Stunden Warten darf die Familie in das Büro der Grenzbeamten. Milan erzählt, dass er in Tschetschenien gefoltert wurde und in Europa Schutz sucht. Sie haben Glück, der Beamte glaubt ihm und lässt die Familie passieren. Andere versuchen es hier 30, 40 Mal.

Mit Händen, Füßen, Stiften

Sie landen in einem polnischen Flüchtlingslager. „Da ging der russische Geheimdienst ein und aus“, berichtet Milan. „Ich hatte Todesangst, dort konnten wir nicht bleiben.“ Eine Woche leben sie zusammengepfercht hinter Stacheldraht, dann bringt sie ein Schlepper im Privatauto nach Deutschland, 13 Stunden, ohne Pause – 1.450 Euro für sechs Personen. Abends erreichen sie die Asylsammelstelle Zirndorf in Bayern, von dort werden sie nach Dingolshausen geschickt, wo der Gemeinderat das leerstehende Haus zur Verfügung stellt.

Ein paar Tage später klingelt es an ihrer Tür. Es sind Sigrid Fessel-Walter und ihre Freundin Christine Heberle. Milan öffnet vorsichtig die Tür; als er Blumen und Schokolade sieht, winkt er die Frauen herein. Bis spät abends sitzen sie zusammen. Sprechen können sie kaum miteinander, aber mit Händen, Füßen und Stiften erzählen sie sich, wer sie sind und woher sie kommen. Es wird ein reizender Abend, ihre Verständigungsversuche bringen alle zum Lachen.

Die beiden Frauen macht diese Geschichte so unmittelbar vor ihrer Haustür betroffen. „Ich wusste, dass in Tschetschenien Krieg war, mehr nicht“, sagt Fessel-Walter. Zu Hause schlägt sie den Atlas auf und findet Tschetschenien – die autonome Republik im Nordkaukasus, an der Grenze zu Georgien und Armenien. Im Internet liest sie erschreckende Berichte von Amnesty International und von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Und sie erfährt von Dublin II, jener EU-Verordnung, die regelt, dass Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, über das sie in die EU eingereist sind. Die Familien müssten demnach zurück nach Polen. Sie sind illegal in Deutschland.

„Wir müssen alle mit einbeziehen“

Das weiß auch Lothar Zachmann, Bürgermeister von Dingolshausen. Weil die Asylsammelstelle in Zirndorf überfüllt ist, sollen die Flüchtlinge vorübergehend in dem Haus in Dingolshausen wohnen, das dem Landratsamt gehört. „Mir war sofort klar, dass die Familien im Ort nur eine Chance haben, wenn wir von Anfang an alle mit einbeziehen“, sagt Zachmann. Die Nachbarschaft sei sehr „homogen“ – ein fremdes Kind an der Bushaltestelle, eine fremde Frau auf der Straße, das sorge für Verwunderung.

Auf der nächsten Gemeinderatssitzung erzählt Zachmann von den Flüchtlingen. „Einige hatten Bedenken: Wie sollen wir uns mit denen unterhalten? Kommen wir mit denen klar? Aber die meisten Bewohner waren erst mal neugierig.“ Doch bald darauf kommt der Abschiebebefehl. Milan soll mit seiner Frau und den inzwischen fünf Kindern im September, Magomed mit Zarina und dem Neugeborenen Anfang Oktober nach Polen abgeschoben werden. Warum, verstehen sie nicht. Asylverfahren, Schengen, Dublin – das haben sie noch nie gehört.

„Rein rechtlich gab es keine wirklich aussichtsreiche Möglichkeit, die Abschiebung abzuwenden“, erklärt Joachim Schürkens, Anwalt für Asylrecht. Die Frauen aus Dingolshausen haben ihn im letzten Juli eingeschaltet. „Die einzige, winzige Chance, die es gab, war zu versuchen, die Abschiebung ein halbes Jahr lang zu verhindern.“ Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass Flüchtlinge in ihrem Aufenthaltsland Asyl beantragen können, wenn die Abschiebung nicht innerhalb von sechs Monaten erfolgt ist. Die einzige Möglichkeit also: Kirchenasyl.

Kirchenasyl riskant?

50 Fälle von Kirchenasyl gab es im Jahr 2012 in Deutschland – Schutz für 105 Personen. Mehr als die Hälfte davon waren sogenannte Dublin-II-Verfahren, wie in Dingolshausen. Rein rechtlich gesehen ist Kirchenasyl keine Garantie dafür, dass die Flüchtlinge nicht abgeschoben werden. Die Polizei kann auch hier eingreifen, aber es passiert selten. In den letzten 20 Jahren sind alle Kirchenasyle in Bayern – bis auf eine Ausnahme – geachtet worden.

„Kirchenasyl ist riskant“, sagt Anwalt Schürkens, „nicht nur, weil die Polizei jederzeit zugreifen kann. Es ist sowohl für die Flüchtlinge als auch für die Unterstützer eine enorme psychische Belastung.“ Die Gemeinde muss den Pfarrer überzeugen, Räume finden, Spenden eintreiben, einkaufen und die Flüchtlinge betreuen. „Denen fällt in ihren meist sehr kleinen Räumen die Decke auf den Kopf. Vor allem, wenn es ganze Familien sind. Kirchenasyl, sagt der Anwalt schließlich im Juli zu den Frauen und den Flüchtlingen, sei „nahezu unmöglich“.

Nahezu unmöglich – das sind die Wörter, die den Ehrgeiz von Sigrid Fessel-Walter wecken. „Nahezu unmöglich bedeutet, es ist möglich.“

Milan, Magomed und ihre Familien sind weniger kämpferisch, sehen aber keine andere Möglichkeit: „Wir gehen überall hin, und wenn es ein Kellerloch ist – Hauptsache, nicht zurück nach Tschetschenien.“

Schreckliche Monate des Ausharrens

Sigrid Fessel-Walter und Bürgermeister Lothar Zachmann berufen eine Versammlung ein und schaffen es, noch mehr Dorfbewohner zu überzeugen. Zum Beispiel Albina Baumann, die in Kasachstan geboren wurde und als Einzige im Dorf Russisch spricht. Die Rentnerin Inge Königer, die bäckt und mit den Kindern bastelt. Oder die Gemeinderätin Elisabeth Finster, die Möbel und Kleider besorgt. Zu neunt gründen die Frauen das „Bündnis für Menschlichkeit“. Nicht alle im Dorf sind so euphorisch.

Auch die Kirchenvertreter sind zögerlich. Sie tragen letztlich die Verantwortung, und auf Beihilfe zum illegalen Aufenthalt stehen Geldstrafen und Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Allerdings werden diese Fälle nur äußerst selten verfolgt. Trotzdem stimmen die Nonnen im Kloster und der Pfarrer zu – unter der Bedingung, dass das Kirchenasyl „still“ verläuft, dass also außer der Ausländerbehörde niemand davon erfährt. Auch heute, nach Ende des Kirchenasyls, wollen weder Pfarrer noch Nonnen darüber sprechen.

Mitte September zieht Milan mit seiner Familie ins Kloster. Zwei Zimmer, zwei mal 15 Quadratmeter mit kleinem Bad. In einem Zimmer schlafen sie, sieben Betten eng aneinandergestellt. Im anderen halten sie sich auf, beten, lesen, essen, warten. Die ersten zwei Wochen sind für Milan schrecklich. Die Enge, die Einsamkeit, das Ausgehverbot – alles erinnert ihn an die Zeit in Tschetschenien.

Ein erster Sieg

Magomed, seine Frau und das Baby kommen in einem ehemaligen Besprechungsraum der Kirche unter – 30 Quadratmeter mit kleiner Küche und kleinem Bad, vor die Tür dürfen sie nicht. „Das Schlimmste war die Langeweile“, sagt Milan. Wenn er über die Zeit im Kloster spricht, zieht er sich zusammen. Krummer Rücken, Arme vor der Brust verschränkt, Blick auf den Boden. Sein Deutsch ist gebrochen, er versteht viel, spricht aber nur wenig. Albina Baumann ergänzt und führt seine Sätze zu Ende. „An guten Tagen dachte ich: Ich hab fünf Kinder, die werden uns doch nicht einfach abschieben? An schlechten dachte ich: Ich habe fünf Kinder – die nehmen doch hier keine sieben Tschetschenen auf einmal.“

Fünf Monate lang verharren die Familien in ihren Unterkünften. Die Bündnisfrauen kommen jeden Tag. Ende Januar kommt der Brief vom Bundesamt für Migration: Die Asylverfahren werden nun in Deutschland geführt. „Auf diesen Moment hatten wir so lange gewartet“, sagt Sigrid Fessel-Walter. „Da fiel eine unheimliche Last von uns ab.“

Einige Wochen später, an einem verregneten Samstagnachmittag, sitzen die beiden Familien wieder in dem Haus in Dingolshausen, wo sie zuerst gewohnt haben. Holzvertäfelte Decken, die Fototapete an der Wand zeigt den bayerischen Wald. Die Deckenlampen sind von Hirschgeweihen umfasst, in einer Vitrine stehen Bierkrüge – bayerischer könnten die Tschetschenen kaum wohnen. Es ist der 26. Geburtstag von Magomed. „Aber auch so etwas wie mein erster“, sagt er, „mein erster in Freiheit.“ Magomed möchte in Dingolshausen bleiben. „Hier hab ich Freunde gefunden.“ Er möchte Geld verdienen, als Bauarbeiter, seine Kinder sollen in die Schule gehen, seine Frau einen guten Arzt finden.

So ausgelassen die Stimmung an diesem Tag ist, allen ist klar, dass viel Arbeit vor ihnen liegt. Zwei bis drei Jahre dauert das Asylverfahren, schätzt Anwalt Schürkens, und es ist nicht sicher, dass die Familien dann bleiben dürfen. Ihr Sohn hätte neulich gesagt, erzählt Sigrid Fessel-Walter am Geburtstagstisch, ihr Engagement mit den Flüchtlingen sei wie in der Bundesliga. Den Aufstieg in die erste Liga hätten sie jetzt schon mal geschafft. Aber das Schwierige sei, in der Liga zu bleiben. „Wenn das so ist, dann wärmen wir uns jetzt eben auf, für die kommende Saison.“

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