Bürger zum Streit um die Heilige Stadt: Mit der Linie 1 durch Jerusalem
Donald Trump legt fest, wem die Heilige Stadt gehört. Was sagen die Jerusalemer? Eine Fahrt mit der Straßenbahn von West nach Ost.
Für den 17-jährigen Lugassi hat an diesem Freitag gerade das Wochenende begonnen. Er will zum Machane Yehuda Markt, bummeln, vielleicht ein paar Nüsse einkaufen oder etwas zum Naschen, bevor er zu seiner Familie fährt, die in Netanja lebt, an der Mittelmeerküste. Der junge Mann ist Schüler einer Jeschiwa, einer Thoraschule, in der fromme Juden die heiligen Texte studieren. Er trägt schwarze Hosen und ein ordentlich gebügeltes weißes Hemd, die schwarze Kipa sitzt auf den dunklen Locken mit einer Haarnadel fest. Seine nackten Füße stecken in Crocks und lassen den Jungen in dem werdenden Mann hervorlugen, so wie die Reste vom Babyspeck im Gesicht des Pubertierenden.
1. Station Herzl Berg: Avihu Lugassi
Für Lugassi ist völlig klar, dass er „mit Gottes Hilfe immer in Jerusalem bleiben“ wird. Das ganze jüdische Volk sollte in der Heiligen Stadt leben, „um bereit zu sein, wenn der Messias kommt“, was, wie er glaubt, schon bald geschehen werde. „Klar ist Jerusalem Hauptstadt“, sagt Lugassi, der leise und schnell spricht aber sehr bestimmt. Dass US-Präsident Donald Trump das jetzt auch so sieht, findet er „ganz nett“.
Fast 70 Jahre nach Gründung des Staates Israel ist noch immer völlig offen, wem Jerusalem gehört oder welche Teile der Stadt Israel zugesprochen werden sollen und welche den Palästinensern. Um zu erkunden, was die Jerusalemer selbst dazu sagen, ist eine Fahrt mit der Linie 1 die ideale Annäherung. Denn die Bahn verbindet den jüdischen Westen mit dem arabischen Osten, sie schafft den Anschluss zwischen reichen und armen Vierteln und überquert dabei eine Grenze, von der höchst strittig ist, ob es überhaupt eine Grenze ist, so wie hier fast alles ziemlich strittig ist.
Es piept an der Haltestelle Herzl Berg. Die Türen schließen selbsttätig, der Zug ruckt an. Die Straßenbahn fährt zügig die Herzl-Straße entlang, bis der Zug die Weiße Harfe erreicht hat, eine kaum zehn Jahre alte Hängebrücke am Eingang der Autobahn in Richtung Tel Aviv. Nächster Halt ist der zentrale Busbahnhof. Das Publikum wird gemischter, die ersten Touristen steigen zu, und Araber, die in Westjerusalem arbeiten oder dort Besorgungen machen. Unter die ganz in Schwarz und Weiß gekleideten jüdischen Männer mischen sich Jeansträger und Frauen mit bunten knielangen Röcken und Sandalen.
Jeschiwa-Schüler Lugassi steigt an der Jaffastrasse, Ecke Machane Yehuda aus, wo sich am späten Vormittag Menschenmengen durch die Marktgassen drängen. Ein junger Musiker mit der für national-religiöse Juden typischen bunt-gestrickten Kipa auf dem Kopf und den Zizit, den Schaufäden traditionell jüdischer Kleidung unter seinem Kapuzenpullover, lässt mit gekonntem Trommeln auf Plastikeimern und Metallschalen ein paar Leute einhalten. Am Straßenrand sitzen zwei ältere Israelinnen und halten die Hand auf.
Auf dem Markt geht es bunt durcheinander auf Hebräisch und Arabisch zu, und ab und an mischen sich Englisch und Russisch dazwischen. Jüdische Israelis und Palästinenser arbeiten Hand in Hand hinter den mit Obst und Gemüse beladenen Tischen, und auch bei der Kundschaft vermischen sich beide Völker. „Den besten Käse der Welt gibt es hier“, ruft eine junge Händlerin und bietet ein dünnes Scheibchen Gouda zum Probieren. Viele Israelis kommen nicht nur hierher, um ein paar frische Äpfel, Nüsse oder Gebäck zu kaufen, sondern auch, um eines der Straßencafés zu besuchen. Wesentlich leiser geht es vis-à-vis des Marktes an der verkehrsberuhigten Jaffastraße zu, dort, wo nur die Straßenbahn rollen darf.
2. Station Jaffastraße: Schimschon Cohen
Anise heißt der in grellem rot gestrichene Naturkostladen, in dem Schimschon Cohen seine Rente aufbessert. Das Leben ist teuer in Israel, aber die Arbeit macht dem 72-Jährigen erkennbar Spaß. Cohen hat volles graues Haar, trägt eine schwarze Kipa, und unter dem Pullover schaut ein roter Hemdkragen hervor.
„Was darf es denn sein“, fragt er ein junges Paar, das in den Laden kommt. „Natürlich haben wir Mandelmilch“, sagt er freundlich und bleibt es auch, als die beiden wieder gehen, ohne die Milch zu kaufen. Die Preise sind gesalzen. „Das hier ist eben ein Boutique-Geschäft.“ Als Kleinkind kam Cohen mit seiner Familie aus Bratislava nach Jerusalem. „Wir können auch deutsch reden“, wechselt er in die Sprache seiner Mutter. Die war Österreicherin. „Jerusalem ist für mich nicht nur mein Lebensmittelpunkt und von religiöser Bedeutung“, erklärt er. Dreimal am Tag betet Cohen, der sich als frommen Juden bezeichnet. „Ich hoffe, dass der Messias bald kommt“, lacht er verschmitzt über sich selbst. „Dann würde sich der Konflikt von selbst lösen.“
Seit einer Weile wohnt Cohen mit seiner Familie in Ostjerusalem, in der israelischen Siedlung Pisgat Seew. Die Straßenbahn wird ihn am Nachmittag dorthin zurückbringen. Angst vor Unruhen nach Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels? „Ach, die regen sich schon wieder ab“, sagt Cohen über die protestierenden Palästinenser: „Heute ist es Trump, morgen ist es etwas anderes.“
Von Cohens Naturkostladen sind es nur wenige Stationen bis zur Altstadt, vorbei am Rathaus und den rund zwei Dutzend schlanken Palmen davor. Bürgermeister Nir Barkat hat seinen Amtssitz mit den Stars and Stripes zum Dank an Trump dekorieren lassen. Der Zug biegt in Richtung Osten und hält nicht weit vom Damaskustor, dem Eingang zum muslimischen Teil der Altstadt. Seit dem Morgen steht hier ein Sonderaufgebot berittener Grenzpolizisten bereit, sollte es zu Demonstrationen kommen. Tausende Muslime strömen gerade vom Freitagsgebet in der Al-Aksa-Moschee durch die engen Gassen zurück in Richtung des Damaskustores.
3. Station Damaskus-Tor: Maslim Barakan
Der 26-Jährige Maslim Barakan aus dem arabischen Stadtviertel Beit Safafa kehrt auf dem Heimweg bei Abu Shukri ein, „der beste Falafalbäcker in der Altstadt“, wie sich Juden und Muslime ausnahmsweise einmal einig sind. Barakan bestellt Falafal, Humus, einen Teller mit sauren Gurken und je einer geviertelten Zwiebel und einer Tomate. Das essen hier alle. Zweimal wöchentlich kommt der fromme Muslim in die Al-Aksa-Moschee. Was meint er zu Trump? „Jerusalem war immer arabisch und wird es immer bleiben“, sagt Barakan und meint beide Stadthälften, Ost und West. Ein Zusammenleben beider Völker in Jerusalem schließt er aus.
Am Freitag ist im Restaurant von Abu Shukri nicht viel los. Die meisten Muslime essen zusammen mit ihren Familien. Barakan wischt mit einem Stück Pita über den Humusteller. „Allahu akbar“, rufen draußen vor dem Laden zornige Frauen und Männer und drängeln die mit Helmen und kugelsicheren Westen ausgestatteten israelischen Grenzpolizisten zur Seite. Doch beide Seiten scheinen darauf bedacht zu sein, es nicht zur Gewalt kommen zu lassen.
„Al-Quds“, Barakan benutzt den arabischen Namen für Jerusalem, „gehört uns“. Über die Al-Aksa-Moschee möchte er reden und über die Probleme, „die die Juden machen“, wenn sie dorthin kommen. „Das dürfen sie nicht, das verbietet der Koran.“ Schließlich gingen die Muslime ja auch nicht in „ihre Synagogen“. Barakan schimpft – nicht wütend, eher entmutigt – darüber, dass „sie uns unser Land wegnehmen“ und darüber, dass die Israelis „überall neue Wohnungen bauen“, die Palästinenser hingegen gar nicht erst einen Antrag zu stellen bräuchten, denn eine Baugenehmigung zu bekommen, sei aussichtslos. „Das ist Rassismus. Das hier ist doch mein Zuhause.“
Ob er sich wehrt und ob er schon einmal im Gefängnis war? Er nickt. „Hier wird man schon verhaftet, wenn man nur in die falsche Richtung atmet“, ruft ein Mann vom Nebentisch. Sie sitzen zu dritt und haben das Gespräch verfolgt. „Wir waren alle schon einmal im Gefängnis, und wir sind alle schon verprügelt worden.“ Die drei Männer berichten der Reihe nach, wie lange und wie oft sie hinter Gittern gesessen haben.
Ahmad, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist 30 Jahre alt, gut gekleidet in modernen Stoffhosen und dunkelblauem Strickpullover mit Reißverschluss am Kragen. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Die Familie wohnt in Beit Chanina, einem Viertel in Ostjerusalem, das die jüdische Stadtverwaltung nach dem Sechstagekrieg vor 50 Jahren eingemeindet hat. Er berichtet von dem Tag, als er seine Frau aus der Entbindungsklinik abholen wollte, von der Sperre und den Polizisten, „die vier Autos vor mir durchließen, mich aber nicht“. Am Ende habe er noch ein Bußgeld zahlen müssen und Strafpunkte bekommen. „Ich war gerade Vater geworden“, schimpft er. „Sie hätten mir gratulieren müssen, stattdessen machen sie solche Probleme.“ Die drei Palästinenser sind sich einig, dass sie vom israelischen Staat keine Gerechtigkeit zu erwarten haben, und dass sie der Willkürlichkeit der Sicherheitsbeamten ausgesetzt sind.
Und Trump? „Wer ist dieser Trump überhaupt“, ruft Ahmad. „Was bildet der sich ein, darüber zu entscheiden, dass Jerusalem Hauptstadt Israels ist.“ So etwas solle er lieber lassen, warnt er. „Denn es kann sein, dass hier was passiert, was du, Trump, dir gar nicht vorstellen kannst.“ Ahmads Freunde drängen zum Gehen. „Nun komm schon“, sagt einer der beiden.
Vor dem Laden hat sich die Menge der vom Gebet heimkehrenden Muslime aufgelöst, und die Grenzpolizisten stehen wieder an ihrem Posten, der dritten Station der Via Dolorosa, gleich neben dem legendären Österreichischen Hospiz mit dem Wiener Kaffeehaus im ersten Stock, wo es Apfelstrudel und Melange gibt. Nur am Damaskustor rufen noch ein paar palästinensische Demonstranten im Chor, dass sie mit „Blut und Seele für Jerusalem kämpfen“ würden.
4. Station Schoafat: Mamduch Mohammad
In der Straßenbahn ist es leerer geworden. Ein junges Paar in Jeanshosen sitzt im Zug, eine ältere Dame mit dunkler Sonnenbrille und Hut, und ein Palästinenser, der drei Plastiktüten mit frischem Brot auf dem Schoß hat. Mamduch Mohammad ist 36 Jahre alt, hat sechs Kinder, und sieht müde aus. Er kommt von der Frühschicht in der israelischen Backfabrik Angel, im Westen Jerusalems. „Pita backen“, sagt er, sei seine Aufgabe.
Vom Damaskustor aus führen die Bahngleise eine Weile entlang der alten Schnittstelle zwischen Ost- und Westjerusalem. Von der Mauer und dem Zaun, die bis zum Jahr 1967 hier Jordanien und Israel voneinander getrennt haben, ist nichts mehr übrig. Gefühlt ist die Stadt aber noch immer geteilt. Links liegt Mea Schearim mit seinen frommen Juden, rechts das palästinensische Scheich Dscharrach. Beide Viertel eint ihre Armut. Unterschiedlich sind die Menschen: links die kinderreichen Familien der ganz in schwarz gekleideten frommen Juden mit den Hüte tragenden Männern und Frauen mit Perücken oder Kopftüchern. Rechts die muslimischen Frauen, die auch Kopftücher übergezogen haben, aber bei denen anstelle der Röcke ihre Körper von Kaftanen bedeckt sind, vom Hals bis zu den Füßen zugeknöpft. Auch die jungen Mädchen in Schuluniform verstecken ihr Haar schon früh.
Unmerklich erreicht die Straßenbahn schließlich Ostjerusalem. Es gibt keine Kontrollen an dieser unsichtbaren Grenze, schon deshalb nicht, weil von israelischer Seite der Eindruck bewahrt werden soll, dass die ganze Stadt eins ist. Jerusalem ist die „unteilbare ewig jüdische Hauptstadt“, wie Regierungschef Benjamin Netanjahu gern betont.
Mamduch Mohammad, der in der Straßenbahn seiner Wohnung zustrebt, hätte nichts gegen ein ungeteiltes Jerusalem, nur sollten die Palästinenser dort das Sagen haben. Mit seinen jüdischen Kollegen käme er gut aus, sagt er. „Wir arbeiten und essen zusammen, früher haben sie mich auch manchmal besucht.“ Das sei aber inzwischen nicht mehr so. „Ich weiß nicht, warum das so ist“, sagt er. Da seien immer wieder Leute, „die Probleme machen“, aber es helfe ja nichts, „wir müssen hier zusammenleben“. Er zuckt mit den Schultern, sagt „ich weiß nicht“, aber am Konflikt trügen die Muslime keine Schuld. An der Haltestelle in Schoafat schnappt er sich seine drei Plastiktüten und steigt aus. Mit schweren langsamen Schritten schlurft er nach Hause.
5. Station Pisgat Seew: Achlam Matwabi
Das Viertel Schoafat ist wie Beit Chanina schon 1967 der Stadt Jerusalem zugeschlagen worden. Die Gegend wirkt am Freitagmittag fast wie ausgestorben. Dass die Bahn bis nach Schoafat fährt, ist nicht unbedingt ein Geschenk des Rathauses an die palästinensischen Bewohner. Denn Schoafat liegt auf dem Weg nach Pisgat Seew, einer der israelischen Siedlungen im Osten Jerusalems, genau wie Beit Chanina.
Dieses Viertel und Pisgat Seew liegen so eng beieinander, dass sich schwer sagen lässt, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Beit Chanina gehört schon lange zu den bürgerlicheren palästinensischen Wohngegenden. Viele Menschen aus der Jerusalemer Altstadt und aus Hebron im Westjordanland sind nach dem Sechstagekrieg hierhergezogen. Die meisten Häuser sind nicht älter als 50 Jahre.
Am frühen Freitagnachmittag ist rund um das Einkaufszentrum, das ungefähr in der Mitte der beiden Ortschaften liegt, viel los. Vor dem Geldautomaten und an den Haltestellen stehen die Menschen Schlange. Noch fahren die Busse und die Straßenbahn, bis der öffentliche Verkehr kurz vor Einbruch der Dunkelheit zum jüdischen Sabbat den Betrieb einstellt.
Achlam Matwabi ist Palästinenserin, aber sie wohnt im jüdisch geprägten Pisgat Seew. Das allein macht sie schon zur Exotin. Die 23-Jährige spricht akzentfrei Hebräisch, trägt die langen dunklen Haare offen und ist dezent geschminkt. Ihre Eltern, erklärt sie, hätten sie in einen jüdischen Kindergarten geschickt und auf jüdische Schulen, damit sie später bessere Berufschancen habe. „Meine Freunde gehen zur Armee“, lacht sie, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Dabei tun dort keine Muslime Dienst.
Matwabi fährt mit der Straßenbahn von Pisgat Seew stadteinwärts zu ihrer Großmutter in Shoafat. „Du solltest hier nicht aussteigen“, sagt sie mir, „das hier ist arabisch und heute ist kein so guter Tag, wegen Trump.“
Manchmal habe sie sogar selbst Angst vor dem Terror, wenn sie von der Uni kommt oder aus dem Justizministerium, wo sie als studentische Hilfskraft arbeitet. Sie ist für Management, Politologie und Internationale Beziehungen eingeschrieben, und man will ihr glauben, dass sie die drei Fächer parallel meistert. „Ich liebe Jerusalem“, sagt sie, nur „die Spannungen zwischen den Völkern sind nervig.“ Die Stadt sollte einfach allen gehören, „wir sind doch Cousins, und alles was euch heilig ist, ist auch uns heilig“. Es könnte so einfach sein, findet sie. „Wenn nur die Politiker nicht wären, dann kämen wir schon lange gut miteinander aus.“
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