Buchband über Musikerinnen: Gegen jeden Essentialismus
Mit „These Girls, too“ gibt Juliane Streich den zweiten Band über vergessene und verkannte Musikerinnen diverser Stile heraus. Doch etwas fehlt.
„Ging es denn nicht mal darum, Oben und Unten abzuschaffen, anstatt sich ohne das geringste Augenzwinkern immer selber aufs höchste Podest zu stellen?“, fragt Kersty Grether in einem Porträt der Berliner Rapperin Lena Stoehrfaktor.
Erschienen ist es in der Anthologie „These Girls, too. Feministische Musikgeschichten“, die die Leipziger Journalistin und taz-Autorin Juliane Streich als Sequel zu dem 2019 veröffentlichten, ähnlich angelegten Sammelband „These Girls“ unlängst herausgegeben hat. Dass Grether die Vergangenheitsform verwendet, gibt zu denken. Denn Ziel von „These Girls, too“ ist es, zu aktivieren, wie Streich in ihrem Vorwort schreibt.
Das Buch soll erzählen „von Frauen, die sich mit Hilfe ihrer Songs und Sounds ausdrücken konnten. Die damit Politik gemacht haben. Die mit Musik Menschen zum Weinen gebracht haben. Oder zum Widerstand. Ihre Wut rausließen. Frauen, die sich durchsetzen mussten. Frauen, die gefeiert wurden. Oder gefeuert.“
Tolle Volten
Es ist folgerichtig und trotz der nicht selten traurigen Geschichten schön, wenn sich im ersten Raum dieser in Dekaden gegliederten und bis in die 2010er reichenden Galerie (die Dekaden 1920 bis 1950 werden dabei zusammengefasst) von Julia Neupert und Franziska Buhre porträtierte Blues- und Jazzsängerinnen wie Bessie Smith und Billie Holiday befinden. Es ist eine tolle Volte, die 1960er Jahre mit Carol Kaye zu beginnen, die als Bassistin „auf mehr als 10.000 Aufnahmen zu hören ist“, wie Franziska Reif schreibt und als eines von vielen Hörbeispielen Nancy Sinatras Arschtritt-Hymne „These Boots Are Made For Walking“ auswählt.
Juliane Streich (Hg.): „These Girls, too. Feministische Musikgeschichten“, Ventil-Verlag Mainz 2022, 304 S., 20 Euro,
Lesung: Samstag 10. September 2022, Prager Frühling, Leipzig.
Zu entdeckende Musikerinnen treten auf, so die Sängerin und Schriftstellerin Jayne Cortez, nahegelegt von taz-Musikrededakteur Julian Weber. Kürzlich hat Ulrich Gutmair in der taz die Punkband Östro 430 gefeiert. Mehr zu ihnen hat Christina Mohr in „These Girls, too“ geschrieben.
Der stilistische und geografische Horizont des Buches ist beachtlich. Natürlich sind seine Protagonistinnen im weiten Feld von Rock und Pop unterwegs, in Metal, HipHop und Dancefloor, aber genauso gut auch im Chanson, Folk, Italo-Pop, in Country, Soul und Avantgarde. Dass mit Violeta Parra, porträtiert von Gaston Kirsche, Südamerika und mit Özlem Tekin, über sie schreibt Sibel Schick, der äußerste Osten Europas vertreten sind, sei unbedingt erwähnt.
Blinder Fleck Osteuropa
Da aber fangen auch die Probleme an. Vollständigkeit ist ein Traum, der zum Albtraum jeder Herausgeberin werden kann, so viel ist klar. Die DDR und Osteuropa sind deutlich unterpräsentiert. Ein Kenner der Materie wie Alexander Pehlemann schreibt über die tschechische Postpunk-Band Dybbuk. Von ihren Achtziger-Jahre-Schwestern aus Estland hätte man gerne in eigenen Kapiteln gelesen.
Im Korrektorat hätten die Satzzeichen die gleiche Akribie verdient wie die Gender-Doppelpunkte. Nicht unterlaufen darf ein Satz wie der, dass am „28. Februar 1998 der erste Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs“ ausgebrochen sei. Abgesehen davon, dass in einer Publikation, die sich auf linke Theorie bezieht, ein Krieg nicht einfach ausbrechen sollte, ist das so wahr, wie momentan diesen Dammbruch auf den 24. Februar 2022 zu legen. Und wer das Pech hatte, Anfang der neunziger Jahre in Sarajevo zu leben, und das Glück hat, noch sprechen zu können, wird an dieser Stelle einiges zu sagen haben.
Das Missy-Magazin beginnt seine Besprechung mit einer Beobachtung, die ähnlich bereits der NDR gemacht hatte: „Wir haben 2022, und auf den Plakaten für die Sommerfestivals findet man mal wieder kaum Frauen.“ Keine Frage, gegen Geschlechterungerechtigkeit wie gegen Bodenspekulation, Mietwucher und Nationalismus gehört gekämpft. Die Frage ist aber, wie man das anstellt, ohne dass in einer sinkenden Welt ein neues Oben und Unten entsteht.
Die Anarchistin Emma Goldman hatte Ende 1921 mit ihrem Lebensmenschen Alexander Berkman das postrevolutionäre Russland verlassen und schrieb vor ziemlich genau 100 Jahren: „Frieden und Harmonie zwischen den Geschlechtern und den Menschen hängt nicht allein von der formellen Gleichstellung der Menschen ab und setzt auch nicht das Auslöschen individueller Merkmale und Eigenarten voraus. […] Es ist heute für die Frau notwendig geworden, sich von der Emanzipation zu emanzipieren, will sie wirklich frei sein. Das mag paradox klingen, ist jedoch nur zu wahr.“
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