Buch von Rabbinerin Delphine Horvilleur: Israels versehrter Körper
Die Rabbinerin Delphine Horvilleur hat ein Buch über jüdisches Leben nach dem 7. Oktober geschrieben. Es ist humorvoll, lehrreich und berührend.
So wie Delphine Horvilleur erging es in den Tagen und Monaten nach dem 7. Oktober wohl vielen Jüdinnen und Juden auf der Welt. Die prominente französische Rabbinerin versuchte, sich an irgendetwas zu klammern, sich ihrer selbst zu vergewissern, den Ursprüngen des Judentums nachzuspüren.
Horvilleur fand etwas Halt in der Sprache des Jiddischen. Es hält Redensarten wie „Oy a brokh’“ oder „Oy vey“ bereit, die als Antwort auf die alltägliche Frage nach dem Befinden vieles bedeuten können, denen Weltschmerz genauso wie Hoffnung eingeschrieben sein kann.
Die Autorin sieht im Jiddischen als Mischsprache die Geschichte jüdischen Lebens repräsentiert: „Es trägt die Spuren sämtlicher Orte, von denen wir vertrieben wurden – leidlich lebendig oder aber weidlich abgeschlachtet“, konstatiert sie bitter. Eine solche Sprache, die die Spuren der (Welt-)Geschichte in sich trägt, brauche es nach dem 7. Oktober überall, meint sie.
Auch in der biblischen Geschichte des Jakob findet sie das jüdische Schicksal wieder: Jakob, der in der Parabel nach einem Bruderzwist mit Esau fliehen musste, kehrt zurück, wird dann im Ostjordanland von einem Unbekannten überfallen. Er ringt eine ganze Nacht lang mit ihm, wird dabei versehrt, ist aber am Ende siegreich. Es heißt, er habe mit Gott persönlich gekämpft, von nun an trägt er den Namen Israel.
Delphine Horvilleur: „Wie geht’s? Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Hanser Berlin 2024, 128 Seiten, 20 Euro
Horvilleur erkennt in diesem Text aus dem ersten Buch der Tora und in der Namensgebung den heutigen Staat Israel wieder.„Israels Körper ist versehrt, aber imstande, Angriffe abzuwehren“, schreibt sie.
Beeindruckende Biografie
Delphine Horvilleur ist nicht nur Rabbinerin in einer liberalen jüdischen Gemeinde in Paris, sie ist seit vielen Jahren auch eine bedeutende französische Intellektuelle. Ihre Biografie ist beeindruckend: Sie wird 1974 in Nancy in eine aschkenasische Familie hineingeboren, studiert als junge Frau Medizin in Jerusalem.
Später geht sie ans Hebrew Union College in New York, wo sie zur Rabbinerin ordiniert wird. Nachdem sie daraufhin Rabbinerin in Frankreich wird, ist sie eine von zwei Frauen im gesamten Land, die dieses Amt innehaben. Zwischenzeitlich arbeitetet sie auch als Model und als Journalistin.
Ihr Buch über das Leben nach dem 7. Oktober erschien kürzlich auf Deutsch, es heißt ganz schlicht: „Wie geht’s?“ Und wie der Titel mit der banalen Alltagsphrase es andeutet, geht es um die Möglichkeit des Sprechens nach dem Hamas-Massaker und den Folgen, das Buch ist in Form von fiktiven Zwiegesprächen verfasst.
Horvilleur, die zuvor schon zwei Bücher auf Deutsch veröffentlicht hatte („Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, „Mit den Toten leben“), weiß, dass spätestens mit Beginn des Gazakriegs eine Sprache ohne Zwischentöne obsiegt hat: „Es liegt jedoch im Wesen des Krieges, dass er, zusammen mit den Unschuldigen und jeder Form der Differenziertheit, auch die Sprache tötet. Alles Gemäßigte verstummt, während die Radikalität aus Leibeskräften brüllt. Es werden Slogans gegrölt und alle gemäßigten Positionen in Geiselhaft genommen“, schreibt sie.
Eine andere Sprache
Sie geht dabei von sich selbst aus; sie weiß, dass auch ihre Sprache eine andere geworden ist. Als sie Freunde kurz nach dem 7. Oktober fragt, ob sie mit zu einer Demonstration gegen Antisemitismus kämen, antworten diese ihr: „Es kommt gar nicht infrage, dass ich zu der Antisemitismusdemo gehe, da laufen ja sicher überzeugte Rassisten mit.“
Es bleibt nicht der einzige Akt der Entsolidarisierung, denn vielen Linken und Liberalen gilt Horvilleur selbst plötzlich als eine Rechte. Sie wird immer nur gefragt, ob sie denn kein Verständnis für „die andere Seite“ hätte.
Sie beklagt diese Logik und schreibt: „Oft wird so geredet, als träfen gegnerische Mannschaften bei einem internationalen Sportwettkampf aufeinander, als müsste man als guter ‚Fan‘ die Gegenseite ausbuhen, die eigenen Vereinsfarben hochhalten und über die Schmach der anderen jubeln. Ich hasse Menschenmengen und ihre verletzende Psychologie.“
Horvilleurs Waffe aber ist der Humor, das wird besonders in den Passagen deutlich, die vom Antisemitismus handeln. Sie spielt rhetorisch mit der Absurdität des Antisemitismus, verweist dabei auf die Querfronten, die gerade im vergangenen Jahr im Antisemitismus ihr Gemeinsames gefunden haben: „Der Judenhass bleibt auf immer und ewig eine Co-Produktion. Weder rechts noch links … oder vielmehr potenziell beides. Der Markt ist viel zu wichtig, als dass ein einziger Akteur das Monopol beanspruchen darf. So will es das Kartellrecht.“
Jüdische Kulturgeschichte, biblische Parabeln
Horvilleur ist eine brillante Rhetorikerin, liebt die Sprache, geht entsprechend liebevoll mit ihr um, das blitzt in den Metaphern immer wieder auf („Kletterpflanzen des Hasses“). In ihre kleinen Geschichten webt sie die jüdische Kulturgeschichte und biblische Parabeln ein. „Wie geht’s?“ ist auch eine Einladung, sich jüdischer und jiddischer Geschichte zu widmen.
So befasst sich Horvilleur mit dem jiddischen Volkslied „Dos Kelbl“, dessen Text der jüdische Künstler Aaron Zeitlin geschrieben und dessen Musik Sholom Secunda komponiert hat. Darin wird das „Kelbl“, das Kalb, auf dem Weg auf die Schlachtbank gefragt, warum es auch ein Kalb sei und keine Schwalbe, die davonfliegen könne und die niemals jemandes Knecht sei („Ver zhe heyst dikh zayn a kalb?/ Volst gekent tsu zayn a foygl/ Volst gekent tsu zayn a shvalb?“).
1940 entstanden, ist „Dos Kelbl“ eine bittere Parabel auf den Transport ins KZ. Unter dem Namen „Donna Donna“ wurde das Lied oft adaptiert, auch Chansonnier Claude François hat ein französisches Lied daraus gemacht. Horvilleur greift die Entstehungsgeschichte des Lieds in einem fiktiven Dialog mit ihrer Großmutter auf.
Der imaginäre Ort „Pitchipoi“
Geschichten halfen Jüdinnen und Juden immer zu überleben oder das Überleben zu verlängern, so spielt Horvilleur auch auf den imaginären Ort „Pitchipoi“ an, den jüdische Häftlinge im französischen Lager Drancy ersannen und sich so den Ort ausmalten, an den sie gebracht werden sollten. Sie wurden nach Auschwitz abtransportiert, Pitchipoi war eine Strategie mit der Ungewissheit umzugehen.
Es ist vielleicht der suchende, grundehrliche Ton dieses Buchs, der am meisten beeindruckt. Die Geschichte über eine Sterbebegleitung und was die Autorin während dieses Prozesses lernt („Gespräch mit Rose“), ist vielleicht das beste Beispiel dafür. In den Gesprächen mit Rose nach dem 7. Oktober erkennt sie, dass sich „zwei Trauernde“ gegenübersitzen, „die wussten, dass nichts mehr so sein würde wie bisher“.
Delphine Horvilleurs Buch liest sich, als würde sie grundlegend neu über Humanität nachdenken, als wäre man direkt dabei, wie sie sich in dieses neue Leben nach dem 7. Oktober hineintastet.
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