Buch von Dominique Pelicot's Tochter: Aufgewachsen mit einem Monster
Caroline Darian ringt in ihrem neuen Buch mit dem Unvorstellbaren: Wie konnte sie einen Vater lieben, der ein Vergewaltiger ist?
Widersprüche sind schwer auszuhalten. Noch schwerer ist es, sie miteinander zu vereinbaren. Etwa, einerseits einen liebenden Vater gehabt zu haben, der andererseits zu Monströsem in der Lage war? Ein Vater, der mit dir als Kind schöne Radtouren fuhr und gleichzeitig seiner Frau Furchtbares antat. Ein Vater, der mit seinen Enkeln am Pool tanzte, ein Vater, der die Mutter vergewaltigte.
Diese Arbeit der Vereinbarung macht Caroline Darian in ihrem Buch „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“. Darian bezeichnen viele auch als die große Vergessene im Pelicot-Prozess, einem der erschütterndsten Kriminalprozesse Frankreichs. Caroline Darian ist Gisèle und Dominique Pelicots Tochter.
In einem Tagebuch, das am 1. November 2020 beginnt und dem 28. November 2021 aufhört, lange vor dem Gerichtsprozess, gewährt Darian Einblick in ihre Psyche und ihre Perspektive auf die Geschehnisse, die bald die ganze Welt verfolgen werden.
Der 1. November ist der Tag, an dem ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird, der Tag, an dem ihr mitgeteilt wird, was ihr Vater verbrochen hat. Ein augenscheinlich ganz gewöhnlicher Arbeitstag, bis Carolines Mann, den die Mutter wenige Stunden vorher bereits informiert hatte, sie bittet, am Küchentisch Platz zu nehmen.
Caroline Darian: „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“. KiWi Verlag, 224 Seiten, 22 Euro
„Ich schaue in diesem Augenblick auf die Backofenuhr. Es ist 20 Uhr 25, in weißen Ziffern. Eine bezifferte Grenze. Ich heiße Caroline Darian und erlebe gerade die letzten Sekunden eines normalen Lebens.„Ab da beginnt der Albtraum, den man sich kaum vorstellen könnte, wären da nicht Darians Worte. Dominique Pelicot hat seine Frau Gisèle mehr als 10 Jahre lang betäubt, vergewaltigt und zur Vergewaltigung angeboten.
Aufschreiben war therapeutisch
Ab dem 1. November 2020 kommen immer mehr neue scheußliche Erkenntnisse hinzu, immer mehr Vergewaltiger, immer mehr Unvereinbares – all das verwebt Darian mit Szenen aus ihrer Kindheit oder glücklichen Erinnerungen an das Haus in Mazan, in das ihre Eltern mit dem Renteneintritt zogen. Szenen, die einen eiskalt erwischen, weil man sie nicht kommen sieht, weil sie nicht zum Jetzt passen.
„Ich sehe uns noch beim Grillen, bei unseren Diskussionen, das Gelächter, unsere lustigen Apéros, die späten Abendessen, die manchmal mit Musik oder einem Tanzwettbewerb endeten, manchmal auch mit lauten Runden Trivial Pursuit oder Money Drop.“
All das aufzuschreiben, ist für Darian therapeutisch, schreibt sie. Das merkt man: Auf den Seiten entblößt sie ihre Gefühlswelt, hält vor nichts zurück, analysiert die eigene Familie, wankt zwischen Trauer, Ekel und Wut, auch Sorge um den Vater findet vereinzelt Platz, und besonders Liebe zu ihrem Sohn, dem sie ein gutes Vorbild sein möchte.
Auch er kämpft ab dem 1. November mit dem großen Widerspruch. Wenige Tage später beginnt ein neuer Albtraum: Die Polizei findet unter den 20.000 Dateien auch Bilder der schlafenden Caroline in fremder Unterwäsche auf der Festplatte ihres Vaters. Darian ist sich sicher, betäubt worden zu sein, in einer so seltsamen Position liege sie auf dem Foto da.
Bis heute weiß sie nicht, ob sich ihr Vater auch an ihr vergangen hat. Dominique Pelicot streitet es ab. Der Gerichtsprozess gab ihr keine Antworten, sie ist die Vergessene. Da ausgerechnet die eigene Mutter Caroline nicht glaubt, als sie ihre Befürchtung preisgibt, bricht eine weitere Welt zusammen. Noch ein Widerspruch, den Darian aushalten muss.
Das Buch handelt auch davon, wie ein Keil in die Mutter-Tochter-Beziehung getrieben wurde. Weil Gisèle, was Caroline betrifft, scheinbar einen Weg der Verleugnung ging – und weil die Manipulation des Vaters bestehen bleibt, auch lange nachdem er nicht mehr bei der Familie, sondern im Gefängnis lebt.
Inwieweit diese Zustände über Jahre hinweg angehalten haben, wird nicht einsichtig, schließlich gibt es eine große Lücke zwischen damals und jetzt. Seit 2022 ist das Buch auf Französisch erhältlich, nach Prozessende auch auf Deutsch.
Inzwischen hat sich viel getan. Caroline Darian ist Aktivistin. Mit ihrem Kollektiv „M’endors pas“ macht sie aufmerksam darauf, was man in Frankreich chemische Unterwerfung nennt, die Verabreichung von Substanzen, um ein Opfer wehrlos und handlungsunfähig zu machen, um so Straftaten an ihm zu begehen. Das, was Dominique Pelicot ihrer Mutter und mutmaßlich auch Caroline Darian selbst angetan hat.
Das Buch ist größer als die eigene Geschichte. Es zeigt Lücken im System, wie mit Opfern umgegangen wird, wie man nach traumatisierenden Polizeiverhören allein gelassen wird und dass man keine angeordnete psychiatrische Unterstützung bekommt.
Darian hatte das Glück, dass ihre Cousine, die Ärztin ist, sie und ihre Familie beraten konnte: „Wie machen das die Frauen, die nicht so ein Glück haben? Wenn die medizinische Versorgung, die einen im Rahmen eines Gerichtsprozesses eigentlich unterstützen sollte, so katastrophal ist, wie soll man da nur eine Sekunde die Hoffnung haben, wieder auf die Beine zu kommen?,“ fragt sie sich.
Caroline Darians Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie vielschichtig familiäre Strukturen sind, die auf der Oberfläche klar erscheinen. Sie zeigt, wie komplex Personen und Beziehungen bleiben, auch wenn man stärker denn je mit Kategorien wie „gut“ und „böse“ konfrontiert ist. Vor allem macht ihre Geschichte begreifbar, wie eine einzige Person so viele Widersprüche auszuhalten in der Lage ist.
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