Buch über widerständige englische Künstlerinnen: Drei Frauen, ein Muster
Die britische Industrial-Musikerin Cosey Fanni Tutti beschreibt in ihrem Buch „Re-Sisters“, wie Erfindungsgeist von Frauen missachtet wurde.
Eigensinn. Selbstbestimmung. Nonkonformität. Drei ungehorsame Frauen, drei ungehörige Leben zwischen anfänglicher Ächtung und verspäteter Anerkennung. Auf diesen Nenner lässt sich das neue Buch der britischen Industrialmusikerin und Künstlerin Cosey Fanni Tutti bringen. „Re-Sisters. The Lives and Recordings of Delia Derbyshire, Margery Kempe and Cosey Fanni Tutti“ verknüpft Biografien dreier Engländerinnen vom 15. bis zum 21. Jahrhundert: Die mittelalterliche Mystikerin Margery Kempe, die Elektronikpionierin Delia Derbyshire und schließlich Christine Carol Newby alias Cosey Fanni Tutti herself.
Drei Frauen mit bemerkenswerten Lebensläufen, die sich über Zeit und Raum überlappen. Denn ihnen gemeinsam ist der renitente Widerstand gegen die patriarchalische Ordnung. Ihr individueller Widerspruch gegen systematische Disqualifizierungen und Entmündigungen in der Suche nach Selbstbestimmung drückte sich aber nicht nur in einer nonkonformen, subversiven Lebensführung aus, sondern insbesondere in dem, was Tutti als „recordings“ bezeichnet.
Damit gemeint sind die künstlerischen Spuren, welche die Frauen hinterlassen haben. Im Fall von Kempe ihre gegen Lebensende um das Jahr 1430 entstandenen spirituellen Memoiren, welche als erste Autobiografie in englischer Sprache gelten. Darin rekapituliert sie ihren Wandel von einer wohlhabenden Kaufmannsfrau zu einer in Keuschheit und Armut lebenden „Braut Jesu“.
Gefährliche Pilgerreisen
Gegen alle Widerstände ihrer männlich dominierten Umwelt unternahm Kempe auf eigene Faust entbehrungsreiche und gefährliche Pilgerreisen, etwa nach Jerusalem und Santiago de Compostela. Eine Widerspenstige mithin.
Cosey Fanni Tutti: „Re-Sisters: The Lives and Recordings of Delia Derbyshire, Margery Kempe and Cosey Fanni Tutti“. Faber & Faber, London 2022, 400 Seiten, 21,99 Euro
Mehr noch, ihre mystischen Visionen, mit denen sie beanspruchte, direkte Kommunikationen vom Herrgott höchstselbst zu empfangen, waren eine Provokation für die Amtskirche, da man Frauen schlichtweg abstritt, Kontakt mit den obersten himmlischen Instanzen aufnehmen zu können. Über Jahrhunderte glaubte man das Manuskript des „Book of Margery Kempe“ verschollen, bis 1934 durch Zufall eine Abschrift in einer Bibliothek gefunden wurde, bei der Suche nach einem anderen Buch.
Delia Derbyshire schuf in den 1960er Jahren wegweisende elektronische Kompositionen: Ihre Titelmelodie für die Sci-Fi-TV-Serie „Doctor Who“ ist nichts weniger als der Beginn elektronischer Zukunftsmusik, an die Künstler wie Kraftwerk später anknüpften. Doch man unterdrückte und verleugnete Derbyshires Urheberschaft.
Erste Frau im BBC-Radiophonic-Workshop
Was sie als erste Forscherin im elektronischen Studio „Radiophonic Workshop“ beim Sender BBC im Alleingang mit reichlich Erfindungsgeist, extrem beschränkten technischen Mitteln und unter selbstausbeuterischer Mühewaltung erschaffen hatte, wurde einem Kollegen zugeschrieben, der in Urlaub gefahren war.
Ähnliche Schicksale ereilte ihre anderen Kompositionen, denn Derbyshires im Radiophonic-Workshop-Studio entstandenen Werke wurden aus rechtlichen Gründen nicht mit individuellen Urheberschaftshinweisen versehen. Arbeitete sie mit einem Kollegen zusammen, schrieb man die künstlerische wie handwerkliche Leistung allein ihm zu.
Führte man ihre Kompositionen zum Beweis ihrer innovativen Qualität vor, beispielsweise bei einem BBC-Showcase in der Londoner Royal Albert Hall, wurde Derbyshire nicht mit Namen erwähnt, sondern herabmindernd als „findige junge Dame“ tituliert. Derbyshire starb 2001, ein Jahrzehnt bevor das 50-jährige Unrecht der Ausradierung ihrer Autorinnenschaft beendet wurde, im Alter von nur 64 Jahren.
Leidvoller Emanzipationsprozess
Cosey Fanni Tutti schließlich, geboren 1951, hat ihren leidvollen Emanzipationsprozess von männlichen Bezugspersonen, insbesondere ihrem ersten Kunst- und Lebenspartner Genesis P-Orridge, bereits in der 2017 erschienenen Autobiografie „Art Sex Music“ beschrieben. Dennoch vermag sie in „Re-Sisters“ noch ein erschütterndes Kapitel zu liefern, nämlich die Schilderung einer von P-Orridge orchestrierten Vergewaltigung durch ein Mitglied der britischen Performancegruppe COUM-Transmissions, die sie mit P-Orridge gemeinsam gegründet hatte.
Dieser hatte, so beschreibt es Tutti in „Art Sex Music“, neben fortdauerndem sexuellem Missbrauch und emotionaler Misshandlung, zwei potenzielle Mordversuche unternommen. Folgen hatten diese Beschuldigungen für den 2020 an Leukämie verstorbenen Künstler allerdings nicht; ab den 1990er Jahren war er aufgrund seines mit Jacqueline Breyer begonnen „Pandrogynie“-Kunstprojekts Breyer P-Orridge zur Ikone der Transbewegung avanciert (wenngleich er sich stets verwahrte als transsexuell fremdidentifiziert zu werden).
Inwieweit sein Status P-Orridge vor einem Reputationsverlust als Täter sexualisierter Gewalt schütze, steht als offene Frage im Raum. Es wird von Tutti jedoch nicht explizit angesprochen. Ihr geht es in „Re-Sisters“ eher um die Analogien zu Delia Derbyshires Los als verkannte Künstlerin: Etwa wie die von Tutti gemeinsam konzipierten Kunstprojekte, samt der oftmals von ihr allein zu verantwortenden Beiträge dazu, nicht nur wegen der Interventionen von P-Orridge primär oder gar allein dem Mann zugeschrieben wurden; aufgrund der unausgesprochenen Annahme, eine Frau könne allenfalls in assistierender Weise beteiligt sein.
Entmündigender Mechanismus
Dieser entmündigende Mechanismus galt bereits für die Skandalausstellung „Prostitution“ (1976) im Londoner ICA, die unter der Federführung von Tutti für COUM entstanden war. Darin hatte sie etwa ihre von Maden bevölkerten gebrauchten Tampons zur Schau gestellt, was in der konservativen britischen Presse Hetzkampagnen auslöste, deren Ausläufer bis ins Parlament reichten: Ein Tory-Kronanwalt – er stellte sich später als Pädophiler heraus, der Waisenkinder missbrauchte – verdammte die Performancegruppe als „wreckers of civilisation“; dies reklamierte freilich P-Orridge für sich, so wie er auch von der Londoner Tate Gallery angekaufte Kunstwerke Tuttis als seine eigenen ausgab.
Die Hauptrollen in „Re-Sisters“ aber spielen Kempe und Derbyshire, denen Tutti sich, um auf das Wortspiel im Titel zu kommen, schwesterlich verbunden fühlt angesichts geteilter Disqualifizierungserfahrungen. Und weil sie Widerständige, resisters also, in der jeweils eigenen Auseinandersetzung mit dem Patriarchat ihrer Zeit waren.
Ebenso geht es im Buch um die unberechenbaren Pfade, auf denen die Hinterlassenschaften, recordings, der einen Vorläuferin wieder aus der Versenkung auftauchen können, um als Echos im Leben und Schaffen der Nachgeborenen fortzuwirken und auf diese Weise weiterleben zu können: als Zeichen von Protest.
Was ist Zufall?
Nicht zuletzt stellt „Re-Sisters“ das Konzept des Zufalls infrage. Ist es ein „Zufall“, dass Kempe, vor mehr als 500 Jahren im ostenglischen Kings Lynne geboren, also just in jener Kleinstadt, in deren Nähe Tutti mit ihrem Partner Chris Carter gezogen ist, nachdem sich ihre Industrialband Throbbing Gristle aufgelöst hatte?
War es ein „Zufall“, dass sie bei einer Buchpräsentation ihrer Autobiografie der Regisseurin Caroline Catz begegnete, die einen preisgekrönten Film über Leben und Werk von Delia Derbyshire drehen wollte und ausgerechnet Tutti bat, den Soundtrack beizusteuern? Was also ist das für eine unergründliche Strippenzieherei, die dafür sorgt, dass sich unsere Leben mit dem längst verstorbener Menschen, denen wir nie begegnet sind, verknüpfen können?
Aus dieser Frage ergibt sich für Tutti eine Antwort auf die nicht nur für alle künstlerisch Tätigen zentrale Frage nach dem Sinn eigenen Tuns. Sie zitiert eine markante Bemerkung von Derbyshire, die einem Kollegen erklärte, warum sie trotz aller Frustrationen aufgrund mangelnder Würdigung ihrer Kompositionen mit Experimenten elektronischer Klangerzeugung fortfuhr: „Was wir gerade machen, ist an sich nicht wichtig, aber könnte eines Tages dazu führen, dass jemand diese Arbeit fortsetzt, um etwas Einzigartiges damit zu kreieren.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen