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Buch über westliche ModerneAlle auf hundertachtzig

Angst, Enttäuschung, Wut – Gefühle geben aktuell in der Politik den Ton an. Eva Illouz spürt ihrer Genese nach und analysiert die explosive Gegenwart.

Das Ich und die Welt in Gleichklang bringen? Bei einer AfD-Veranstaltung in Dresden Foto: Jonathan Bar-Am

Die Menschen sind zorniger geworden. Oder scheint das nur so? Waren sie nicht zu jeder Zeit gleichermaßen zornig?

Nein, Eva Illouz zufolge ist der Zorn größer als noch vor 30 Jahren etwa. Die israelische Soziologin, die in Jerusalem und Paris lehrt, analysiert seit vielen Jahren die emotionale Tiefenstruktur der westlichen kapitalistischen Gesellschaften. In ihrem letzten Buch „Undemokratische Emotionen“ (2023) ging es um die Unterminierung der israelischen Demokratie durch die politische Rechte.

Zorn, das ist nur einer der Affekte neben Neid, Scham und anderen, die Illouz in ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ untersucht. Dabei ist ihr Material vor allem die Literatur; dort bekämen allgemein wahrgenommene Gefühle eine schärfere Kontur, so Illouz. In Kleists „Michael Kohlhaas“ beispielsweise lernt sie, dass Verhältnismäßigkeit ein wichtiger Grundsatz von Gerechtigkeit ist. In Prousts „Recherche“, dass Leid eine Form von Lust einschließt, auf die wir nicht verzichten können.

Eva Illouz: „Explosive Moderne“. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, 447 Seiten, 32 Euro

Moderne – das ist ein weites Feld, Philosophie und Soziologie kennen viele Theorien der Moderne: Im Zentrum stehen der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, Warentausch und Abstraktion oder die Rationalisierung der Welt und damit die Zerrissenheit oder gar Entfremdung des Individuums.

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Effekte im Gefühlsleben

Eine Theorie der Moderne legt Illouz jedoch nicht vor. Auch unterscheidet sie Moderne und Spätmoderne nicht – nur eine der vielen Ungenauigkeiten in diesem Buch. Moderne meint hier Leistungsgesellschaft. Deren Antagonismen will Illouz nachspüren, herausfinden, auf welche Weise sie Effekte in unserem Gefühlsleben entfalten.

Der Aufstieg der Populisten allerorten oder die Vermehrung der psychischen Störungen, auf welche die Konsumindustrie mit Bergen von Ratgeberliteratur jedweder Art reagiert und alles Therapeutische eine steile Karriere hinlegt, zeigten nur allzu deutlich, dass etwas schieflaufe im Gefühls- und Sozialleben unserer Gesellschaft.

Ist die Hoffnung auf ein gutes Leben, die einst konstitutiv für das moderne Individuum war, so Illouz – ihm war das Versprechen mitgegeben, es ökonomisch und sozial zu schaffen, sich gar selbst verwirklichen zu können –, ist sie gewichen? Irgendwie ja, denn da ist die Sache mit den Klassen, die der Idee von Demokratisierung und dem allgemeinen Gleichheitsideal zuwider läuft.

Womit wir wieder beim Zorn wären. Der ist Illouz zufolge zunächst mal „Ausdruck einer demokratischen Kultur der Gleichheit“. Heißt: Die Menschen wollen die volle Belohnung für ihre Anstrengungen und das volle Mitwirkungsrecht an Institutionen, das ihnen versprochen wurde. Es ist also gerade „die Horizontalität, die Unterlegenheit und Ausschluss unerträglich macht“.

Sie wollen autoritäre Lösungen

Tatsächlich gebe es immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer. Das mittlere Management wurde ausgedünnt, die Mobilität innerhalb der Organisationen blockiert, weil auch die Jobs mit wenig Qualifikationsanforderungen vermehrt an gut qualifizierte Menschen gehen.

Ausschluss, Abstieg(sangst) und ausgebliebene Anerkennung, all das gibt es, aber Illouz weist darauf hin, dass das nicht hinreicht, um den Aufstieg des Populismus zu erklären, denn, ganz richtig: Viele wollen einfach autoritäre Lösungen für politische und soziale Konflikte – sogar dann, wenn sie gar nicht von Abstieg und Ausschluss bedroht sind.

Auch der Feststellung, dass politische Zugehörigkeit zunehmend die ganze Identität bestimmt und dass je stärker die Politik von Identitäten ausgeht, desto eher Meinungsunterschiede als Angriff auf das eigene Selbst interpretiert werden, stimmt Illouz zu, ergänzt diese Erklärungsansätze aber um einen weiteren Aspekt: Zorn ist einfach legitimer geworden.

Mehr noch: Tatsächlich habe sich Empörung zu einem Zeichen von Moralität entwickelt. In Anlehnung an den französischen Literaturwissenschaftler Bruno Chaouat schreibt sie, die Empörung, gleich welch politischer Richtung, sei zu „einem politischen Ethos“ und „zum Bestandteil einer moralischen Orientierung in der Welt“ geworden.

Furcht und Liberalismus

Eine Lösung hat Illouz nicht, aber das ist auch nicht Aufgabe der Soziologie. Ihr Buch ist nicht der ganz große analytische Wurf, bietet aber einige kluge und unbedingt bedenkenswerte Thesen und Erklärungen zur explosiven Stimmung unserer Gegenwart und ihrer langen Genese.

Denn, so Illouz, der Liberalismus, der versprach, die Furcht der Menschen aus der Welt zu schaffen, habe die Ängste nur multipliziert. Ihre Argumente hierfür sind triftig.

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