Lieber ewige Qual als Tod

Scheiternde oder vielleicht auch nur vorgetäuschte Wissenschaftskommunikation hat am letztinstanzlichen Urteil um den Verbleib des Zirkusschimpansen Robby aus Celle mitgeschrieben. Das weist der Psychologe und Tierrechtler Colin Goldner in einem mit Verve geschriebenen Rückblick auf die Affäre nach

Die Wissenschaft hat ihn nicht retten können: Zirkusschimpanse Robby in seinem Käfig im Celler „Großen Circus Belly“ Foto: Sina Schuldt/dpa

Von Benno Schirrmeister

Dem unmittelbaren Opfer hilft es wenig. Aber immerhin: Wenn sie sich ihr Scheitern eingesteht, dann kann Wissenschaft daraus noch etwas lernen, für die Zukunft, für ähnlich gelagerte Fälle, damit es für sie eine bessere Lösung gibt. Mit dem Buch „Robby –der letzte Zirkusschimpanse“ hat Colin Goldner, klinischer Psychologe und in Deutschland Koordinator des Great-Ape-Projects, die Geschichte einer besonders schmerzhaften Niederlage des wissenschaftlichen Tierschutzes mit Verve erzählt.

Der Ort des Debakels: Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Am 8. November 2018 hatte dessen elfter Senat festgestellt, dass der besagte Schimpanse „schwerwiegende Verhaltensstörungen“ aufweise. Verursacht durch die „offenkundig“ alle Vorgaben des Tierschutzgesetzes verletzende Unterbringung im in Celle beheimateten „Großen Circus Belly“. Diese Störung sei verbunden mit, vielleicht sogar verursacht durch „eine Fehlprägung auf den Menschen“, also konkret den Zirkus-Direktor Klaus Köhler.

Mehrere Fach­gut­ach­te­r*in­nen hatten im Zuge des Verfahrens das erhebliche Leiden herausgearbeitet, das die unangemessene Unterbringung und der desaströs reduzierte soziale Kontakt für den Affen bedeuten. Sogar die weltweit bekannteste Primatologin, Jane Goodall, deren Forschungen zum Verhalten von Schimpansen als bahnbrechend gelten, hatte sich in die Auseinandersetzung eingeschaltet: „Ich bin nach eingehender Betrachtung der absoluten Überzeugung, dass Robby in eine autorisierte Auffangstation überstellt werden sollte“, so lautete ihr Befund angesichts von Videoaufnahmen.

Man kann noch nicht einmal sagen, dass das Gericht kein Einsehen hatte. Es folgte der gutachterlichen Einschätzung, dass „Robby“ abgesehen von täglich zwei bis drei Stunden Aufmerksamkeit seine Tage „ohne adäquaten Sozialpartner verbringen“ muss und stellte fest, dass die schädlichen Haltungsbedingungen „seit Jahrzehnten“ bestehen und sich „im Rahmen der Zirkushaltung auch künftig nicht bessern“ würden.

Trotzdem entschied es, statt den Affen in die auf Schimpansen spezialisierte Auffang-Station der Stichting AAP in den Niederlanden zu transferieren, um ihm eine Resozialisierung zu ermöglichen, das Tier in seinem Pferch zu belassen. Lebenslänglich. Unwiderruflich. Unanfechtbar.

Der Jubel, der über dieses „glückliche Ende zugunsten des Affen“ auf Regional-News-Portalen wie Celle-heute.de losbrach, wirkt geradezu zynisch, selbst wenn man nur die Lüneburger Entscheidung liest. Denn die bestätigt ja, dass dem Tier dauerhaft Schaden zugefügt wurde, dass es darunter sehr wahrscheinlich leidet, und dies nun bis zum Tode weiter zu tun hat. Nur macht sie geltend, dass es keine Garantie dafür gibt, dass eine Resozialisierungsmaßnahme gelingt. Wenn sie schiefgeht, würde nur bleiben, das Tier einzuschläfern.

Die zu 100 Prozent positiven Erfahrungen der vorgesehenen Auffangeinrichtung vermochten den Senat nicht zu überzeugen – weil in einem, allerdings mit Robby vergleichbaren Fall, „eine Tötung in Betracht gezogen worden“ sei. Dass dieser doppelt hypothetische Todesfall im Potentialis in der juristischen Güterabwägung ein solches Gewicht bekommen konnte, lässt sich dank Goldners Rekonstruktion als Folge scheiternder Wissenschaftskommunikation erkennen. Oder, genauer, ihrer bloßen Vortäuschung.

Tatsächlich sind wissenschaftliche Evaluationen von Primate-Sanctuaries, die Affen eine artgerechtere Zukunft hätten ermöglichen können, sehr selten – und ungeheuer aufwändig: Über acht Jahre hat ein Team um die Verhaltensbiologin Olga Feliú im Centre de Rehabilitació de Primats im katalanischen Girona die Sozialtherapie dreier zuvor jahrzehntelang in der Unterhaltungsindustrie eingesetzter Schimpansen begleitet. Erst Anfang Januar ist die Studie im peer-reviewten Magazin Animals erschienen.

Jenseits dieser Desiderate der Forschung macht Goldners Buch die diskursiven Verwerfungen deutlich, mit denen sich die Gut­ach­te­r*in­nen konfrontiert sahen – und die mutmaßlich auch die Rich­te­r*in­nen nicht unbeeindruckt ließen. Dank einer kurzen Kulturgeschichte des Menschenaffen, vom ersten Kontakt mit Europäern 1636 bis ins 21. Jahrhundert, die er mit Eckdaten der Zirkusgeschichte verknüpft, wird der Resonanzraum erkennbar, in dem öffentlich Stimmung gegen die Befreiung des Tiers gemacht worden war.

Das Gericht entschied, den Affen in seinem Pferch zu belassen. Lebenslänglich. Unwiderruflich. Unanfechtbar

Ermöglicht hatte er, dass unbefangene und wissenschaftlich anerkannte Expertise, die es ja gibt, von Zeitungen, Newsportalen, Rundfunk- und TV-Anbietern geradezu vermieden wurden. Stattdessen wurde – auch in der taz – in beklemmend unkritischer Weise der Bremer Tierärztin Alexandra Dörnath ein Forum geboten: Die betreibt zwar im „Klein Mexiko“ benannten Ortsteil eine auf Exoten spezialisierte Praxis. Ihre seltenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen kreisen seit Jahren um Haltungsprobleme bei Bartagamen und Landtierschildkröten. Ihr Organ der Wahl dafür ist die Zeitschrift kleintier konkret. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber peer-reviewed ist die nicht.

Als Dörnath erstmals zu dem Robby benannten Affen im Fernsehen Rede und Antwort stand, hatte sie diesen weder je gesehen noch überhaupt irgendwelche Schimpansen-Erfahrungen gesammelt. Trotzdem ließ man die Zirkusbegeisterte zuerst bei RTL, dann auf allen weiteren Kanälen, das Tier im 100 Kilometer entfernten Celle diagnostizieren und unwidersprochen behaupten, dass eine Herausnahme Robbys aus seinem familiären Umfeld den sicheren Tod für ihn bedeuten würde.

Mit Primaten – Gorillas – hatte sich Dörnath zwar im Rahmen ihrer Promotion befasst. Jedoch nur mittelbar, wie Golder erinnert: „Die Dissertation der Frau Dörnath stellt eine reine Retrospektivstudie dar, in der sie Verfahren zur Immobilisation sowie zur medikamentösen Ruhigstellung von in Zoos gehaltenen Gorillas untersuchte.“ Das ist keine Polemik, sondern entspricht recht genau den Angaben im Klappentext des 2014 im Mensch&Buch-Verlag erschienenen Werks. Im Rahmen ihrer Studie hat sie demnach in Europa 29 zoologische Einrichtungen kontaktiert, sich deren medizinische Daten über die Ruhigstellung von Gorillas aushändigen lassen – und sie dann gesichtet, eine Dekade quantitativ analysiert und dann noch „bemerkenswerte Ereignisse des Zeitraumes von 1929 bis 2004“ aufgelistet. Viel übers Sozialverhalten der Tiere ist diesem Buch nicht zu entnehmen.

Was Goldner nicht schreibt, aber materialreich plausibel macht, ist die Annahme, dass die Lüneburger Rich­te­r*in­nen nicht unbeeindruckt von dem öffentlichen Diskurs geblieben sind – der von mit Rechtsradikalen verbandelten Tierrechtshasserportalen massiv befördert wurde. Zwar hatte das Gericht sehr genau den Unterschied zwischen bloßer Meinung und wissenschaftlicher Expertise erfasst – und gehypte Pseudofachleute nicht zu Wort kommen lassen. Aber das journalistische Versagen zuvor besteht darin, genau diese notwendige Überprüfung mindestens unterlassen, wenn nicht unterdrückt zu haben. Journalismus wirkt. Aber nicht immer zum Guten.

Colin Goldner: Robby, der letzte Zirkusschimpanse, Alibri 2021, 163 S., 14 Euro