piwik no script img

Buch über Wladimir PutinEin vierfacher Krieg

Wer ist Putin wirklich und was will er? Im „Schwarzbuch Putin“ suchen international renommierte Ex­per­t*in­nen Antworten auf drängende Fragen.

Was will Putin? Eine Sowjetunion ohne Kommunismus? Foto: Dmitri Lovetsky/dpa

„Ich weiß, dass sich Selenski wie Hitler in seinem Bunker verschanzt hat. Aber ich weiß, wo sein Bunker ist … Entweder ich mache die Ukraine dem Erdboden gleich oder ich schlage ihr den politischen Kopf ab.“

Dieser Satz von Russlands Präsidenten Wladimir Putin soll einem Bericht des Figaro zufolge bei einem Telefongespräch mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron kurz nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angiffskriegs gegen die Ukraine, gefallen sein.

Seit nunmehr über einem Jahr wird die, schon längst zu Putins persönlicher Obsession gewordene, „Entnazifizierung“ des Nachbarn ins Werk gesetzt: Sie hat zehntausende Tote gefordert, Städte und Dörfer ausradiert, Millionen zu Flüchtlingen gemacht, aber Russland – auch wegen des ungebrochen Widerstandswillens der Ukrai­ne­r*in­nen – seinem Ziel kaum näher gebracht.

Wie konnte es zu diesem wahnwitzigen Gemetzel mitten in Europa kommen, das eine Zäsur der Weltgeschichte markiert? Wäre dieser Krieg, den Russland immer noch als „Spe­zial­operation“ verkauft, vermeidbar gewesen? Wer ist Wladimir Putin – der Mann, der 1999 und gerade erst vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum Regierungschef ernannt, die Tsche­tschen*­in­nen auf dem Abort kaltmachen wollte? Und der sich mit seinem brutalem militärischen Amoklauf in der Ukraine endgültig aus dem Kreis zivilisierter Staaten verabschiedet hat?

Galia Ackerman, Stéphane Courtois (Hg.): „Schwarzbuch Putin“. Übersetzt von J. Hagestedt, U. Held et al. Piper Verlag, 512 Seiten, München 2023, 26 Euro

Sowjetismus ohne Kommunismus

Wer auf diese und andere Fragen Antworten sucht, könnte in dem „Schwarzbuch Putin“ fündig werden. Herausgeber sind die beiden französischen His­to­ri­ke­r*in­nen Galia Ackerman und Stéphane Courtois. Letzterer ist mit seinem in 26 Sprachen übersetzten zweiteiligem „Schwarzbuch des Kommunismus“ seit den nuller Jahren auch dem deutschen Publikum bekannt.

Das Buch enthält 21 Beiträge von französischen und internationalen Expert*innen, die deutsche Ausgabe wurde um Aufsätze des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie sowie der Journalistin Katja Gloger ergänzt.

Die einzelnen Abhandlungen beziehen sich nicht aufeinander und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. In ihrer Einleitung versuchen sich Ackerman und Courtois an einer ersten allgemeinen Charakteristik von Putins Regime. Dieses habe sich in eine „schädliche Macht“ verwandelt, deren Hauptexportprodukt die Angst sei. Der Begriff „postkommunistisch“ werde dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht.

Man könne von einem „Sowjetismus ohne kommunistische Idee“ sprechen. Das Neue an diesem System bestehe in einem Zusammenschluss des Regimes mit mafiösen Gruppen, deren grausame Praktiken angewendet würden, sowie einer endemischen Korruption, vor allem in den oberen Etagen der Macht. „So ist es dieses System, das in der ganzen Welt Unruhe sät und dessen imperialistische Ziele weit über die Ukraine hinausgehen.“

Russland verstehen

Zu verstehen, wie Russland letztendlich zu dem wurde, was es heute ist, verlangt zuallererst eine Annäherung an die Person Putins, die unter dem Titel „Chronik einer angekündigten Diktatur“ Gegenstand des ersten Teils des „Schwarzbuchs“ ist.

Im Zentrum der Betrachtungen steht, wie nicht anders zu erwarten und für Fortgeschrittene in Sachen Russland von eher geringen Erkenntnisgewinn, Wladimir Putins Sozialisation im Geheimdienst – erst KGB, dann FSB. Sie prägt das Denken und Handeln des Kremlchefs bis heute. „Einmal Tschekist, immer Tschekist“ ist einer der Beiträge, in dem der französische Historiker russischer Herkunft, Andrei Kosovoj, Putins Werdegang unter diesem Aspekt nachzeichnet.

Äußerst aufschlussreich ist hingegen ein Rückblick auf die Geschichte des Geheimdienstes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Anders als von vielen erwartet oder erhofft gelang es dem FSB, die staatlichen Strukturen quasi generalstabsmäßig zu infiltrieren und wieder zu einem entscheidenden Machtfaktor zu werden – außen- wie innenpolitisch.

Nach vorn in die Vergangenheit

Ackerman und Courtois sprechen in diesem Zusammenhang von „Putins Flucht nach vorn in die Vergangenheit“ und verweisen auf Sergei Medwedjew, einen russischen Historiker und Politologen, der sich auf die postsowjetische Periode spezialisiert hat.

Laut Medwedjew führt Putin seit Jahren einen vierfachen Krieg: einen territorialen neoimperalistischen, der vor allem die Ukraine im Visier hat; einen symbolischen zur Schaffung einer neuen russischen Identität, die vor allem auf militärischer Macht gründet; einen biopolitischen, der die Bür­ge­r*in­nen dazu zwingt, sich die Werte der Staatsmacht sowohl im Privatleben als auch politisch zu eigen zu machen; sowie einen memorialen, der mittels der Rehabilitation Josef Stalins und der Überhöhung des „Großen Vaterländischen Krieges“ das vergangene Imperium der Zaren sowie die einstige sowjetische Supermacht zu neuer Größe erhebt.

Wie dieser Kampf an den verschiedenen Fronten aussieht, ist in den Teilen zwei („Politik der Destabilisierung und Aggression“) und drei („Wege und Mittel der Allmacht“) nachzulesen.

Souveränität verweigern

„Die Verweigerung der Souveränität“ ist der Beitrag von Thornike Gordadse über Georgien betitelt – ein Beispiel dafür, wie der Kreml in den einstigen Sowjetrepubliken, die er nach wie vor als Einflusssphäre betrachtet, seine Machtansprüche durchsetzt.

In der Südkaukasusrepublik, laut Lesart des Kreml seit der Rosenrevolution und der Präsidentschaft von Michail Saakaschwili (2004 bis 2013) auf „Abwegen“ in Richtung Europäische Union und Nato, hat der Kreml spätestens mit dem russisch-georgischen Krieg um die Region Südossetien 2008 Fakten geschaffen. Seitdem hält Moskau 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt.

Der Friedensplan, unter Vermittlung der EU zustande gekommen, wurde von russischer Seite nie umgesetzt. Der Westen habe seine Lektion aus dem Südossetienkrieg nicht gelernt. Er habe Putin sogar noch in dessen revisionistischer Politik bestärkt und ihn ermutigt, sich unter totaler Missachtung internationalen Rechts in andere Eroberungen zu stürzen, lautet Gordadses Befund. Dieser ist so bitter wie wahr, aber bezüglich Russlands nur ein blinder Fleck des Westens unter vielen.

Wem hätten sie sich nicht ins Gedächtnis eingebrannt, die Bilder vom Frühjahr 2022 aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha: Massengräber, wehrlose abgeschlachtete Zi­vi­lis­t*in­nen auf den Straßen, vergewaltigte Frauen, Gefolterte und Verschleppte. Flankiert werden diese Gräueltaten durch die gezielte Zerstörung von Dörfern und Städten, Bombardierungen von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern.

Ein Déjà-vu

Das alles gab es schon einmal – während der beiden Kriege in Tschetschenien (1994–96 und 1999–2009). Wie sagte seinerzeit der russische Verteidigungsminister Igor Sergejew: „Wir übernehmen unsere Städte nicht, wir befreien sie.“ Ein Déjà-vu, wie der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine jeden Tag zeigt. Wladimir Putin wolle, nicht nur in den besetzten Gebieten, die Völker in das Stadium eines Homo sovieticus zurückwerfen – die einzige ­Möglichkeit, eine totale und dauerhafte Kontrolle zu garantieren.

Dieses Unternehmen sei in Russland bereits erfolgreich realisiert worden, heißt es in dem Aufsatz „Ermordung der Völker“ von Françoise Thom. Gemeint ist damit Putins veritabler Feldzug gegen Nichtregierungsorganisationen, unabhängige Medien sowie alle, die ihre Stimme gegen das Regime erheben. Mit Memorial und der Moskauer Helsinki-Gruppe wurden vor Kurzem auch noch die letzten Menschenrechtsgruppen zum Schweigen gebracht.

Hätte man diese Entwicklung voraussehen können? Man hätte. Anzeichen gab es genug, entsprechende Ankündigungen ebenfalls.

Sich dabei ausschließlich auf die Person Putins zu fokussieren, greift jedoch zu kurz. Denn auch mit einem Machtwechsel im Kreml, der die russische Zivilgesellschaft in Geiselhaft genommen hat, ist das Problem nicht erledigt.

„Das russische Unglück“

„Wohin geht Russland?“ ist eine Frage, die sich derzeit viele stellen. Sie wird auch im „Schwarzbuch Putin“ nicht beantwortet. Nur so viel: „Das russische Unglück ist zurück, das große Katastrophen bei den Russ*innen, ihren engen Nachbarn und in der ganzen Welt verursacht. Russland läuft in den Abgrund“, heißt es im abschließenden Kapitel.

Wie schrieb Alexander Solschenizyn, Dissident und Literaturnobelpreisträger, am 12. Februar 1974, dem Tag seiner Festnahme: „Das ist er, der Schlüssel zu unserer Befreiung: Die Weigerung, sich persönlich an der Lüge zu beteiligen.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Ich treffe ständig Menschen die von der Vorstellung ausgehen, der Superimperialismus der USA wolle diesen Krieg, um Russland zu zerstören mit einem Abnutzungskrieg. Dabei werden Dinge die man in der Realität beobachten kann, aus russischer Sicht interpretiert. Niemand von diesen Leuten ist "von Moskau bezahlt", sondern sie lesen z.B. Magazine der linken Szene wie das lower class magazine.



    Die Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) bekam 2011 den Aachener Friedenspreis und rechtfertigt seit 2022 das Vorgehen der russischen Armee. Überhaupt gehen die meisten Kommentatoren von einem Interessengegensatz aus: Russland oder der Westen. Worin bestand der? Kulturell?



    250 Jahre Jubiläum! 1792-2022! 250 Jahre Aufteilung Osteuropas / Polen-Litauen / Ukraine zwischen Berlin und Moskau.

    • @Land of plenty:

      1772 - 2022.



      1772 war die erste "Polnische Teilung".

  • Der vierfache Krieg:



    ich glaube, das ist wichtig, diesen Zusammenhang zu sehen zwischen der Rechtlosigkeit im Innern und dem Krieg nach außen.



    Was einzelnen Familien passieren kann: von maskierten Männern aus dem Haus geworfen, enteignet und der Vater der dagegen klagt, wird wegen erfundener Steuerhinterziehung verurteilt.



    Es gab da jemand lokal Mächtiges, der sich für das Haus/ Grundstück interessierte.



    Aber psychologisch soll es so funktionieren, dass die Leute die Inszenierung der Größe Russlands, "der Herrscher und sein Volk sind einig" (als Ersatz) verinnerlichen.



    Das ist außerdem eine sehr patriarchale Angelegenheit.



    Die westlichen Länder v.a. Schröder, verweigerten der Ukraine lange ein Abkommen mit der EU. Darüber schreibt z.B.



    Schneider-Deters, Winfried, 2005, Die palliative Ukrainepolitik der EU. Ein Plädoyer für ein neues Denken in: Osteuropa, 55, 1, S. 50-63 - direkt nach den Massenprotesten Dez. 2004.



    Da gab es noch keine Pipeline Nord-Stream! Aber Schröder regelte das: EU steht nicht zur Debatte. Weil Putin das nicht will.



    Siehe auch



    Schneider-Deters, Winfried, 2021, Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019 Band 2 Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass, Berlin BWV.



    und die gesamte Zeitschrift "Osteuropa" 12 Ausgaben im Jahr.

  • Wer ist Wladimir Putin – der Mann, der 1999 und gerade erst vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum Regierungschef ernannt, die Tsche­tschen*­in­nen auf dem Abort kaltmachen wollte? Ich glaube der Satz ist wichtig . Nur was bedeutet er ?

  • Kann einzelnen Kommentaren nur dringend beipflichten. Klingt gerade so, als ob etwas Neues bekannt wurde. Putin ist über 20 Jahre im Amt, das hätte schon massiv hellhörig machen müssen. UvdL verschleudert Millionen für überflüssige Gutachten. Merkel hätte spätestens nach der krimannexion ein Millionen-Gutachten über Putin erstellen lassen müssen, da wären sicher 98% von dem jetzigen herausgekommen. Und natürlich, die Medien haben sich von Merkel einlullen lassen. Da gehört noch viel aufgeklärt. Es konnte mir noch niemand plausibel machen, wie man ohne Systemnähe in der DDR promovieren konnte. Papa hat die Systemnähe ja geradezu gesucht, als er in die DDR übersiedelte. Putin wusste das und hat Merkel in die Tasche gesteckt, so dass er mit von ihr hauptzuverantwortenden hunderten von Milliarden seine marode Militärmaschinerie aufbauen konnte, um nach ihrem Abtritt loszuschlagen. Hauptfeind ist der Westen, die Ukraine muss wegen naiver verheerender Politik insbesondere von Frau Merkel leiden. Die Historiker werden nicht umhin kommen, diesen Tatbestand festzustellen, wenn die Schreibenden schon überwiegend versagt haben.

  • Waren sie alle blind gegenüber dieser angekündigten Kstastrophe in Europa: CDU, SPD, die Linke? Würden sie Verantwortung für ihr Versagen übernehmen, müssten sie alle geschlossen vonnihren Ämtern zurücktreten.

    • @Rinaldo:

      Was ist dann mit den ganzen Journalisten, Publizisten und Intellektuellen, die mitgemacht haben und zum Teil immer noch Russland das Wort reden? Was ist zB mit Jakob Augstein, der „nicht sieht“, dass die Ukrainer für eine wichtige Sache kämpfen, oder mit Alice Schwarzer?

      Und: welche Konsequenzen sollte Angela Merkel ziehen?

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Spannender Arikel über ein Buch mit klarsichtigen Darstellungen.

    Jetzt, wo das längst nicht verdeckt Gewesene als ein Mittel der Affirmation im Krieg wertvoll ist, trifft es auf eher Interesse (wenigstens), statt zu Zeiten, als dafür nahezu flehentlich um Aufmerksamkeit gerufen wurde, als damit der Krieg noch hätte verhindert werden können.



    Erschütternd, verstörend, traurig.

    >>Wie schrieb Alexander Solschenizyn, Dissident und Literaturnobelpreisträger, am 12. Februar 1974, dem Tag seiner Festnahme: „Das ist er, der Schlüssel zu unserer Befreiung: Die Weigerung, sich persönlich an der Lüge zu beteiligen.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.