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Buch über Verteidiger der DemokratieKetzer, keine „Querdenker“

Der Autor Marko Martin porträtiert in seinem Buch „Brauchen wir Ketzer?“ Intellektuelle, die die Freiheit des Einzelnen hellsichtig verteidigt haben.

Ketzer der Macht bringen Licht ins Dunkel Foto: Chris Machian/ap

Marko Martin setzt in seinem neuen Buch ein schriftstellerisches Unternehmen fort, das mit seinen Reiseromanen und -berichten in unterschwelliger Verbindung steht: die Wiederentdeckung einer Ahnengalerie antitotalitärer intellektueller Vorbildgestalten.

Das Buch

Marko Martin: „Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht:Portraits“. Arco Verlag, Wien 2023, 350 Seiten, 20 Euro

Ihn interessieren seit Jahrzehnten jene freiheitlichen Solitäre, die in den verschwisterten Fluten des Nationalsozialismus und des Stalinismus untergingen und von denen viele außerhalb des politischen Diskurses geblieben sind. Diese großen Vereinzelten treiben ihn innerlich und äußerlich um. Er besuchte sie, sofern sie noch lebten. Er bringt sie und ihre Bücher in essayistisch-biografischer Feinmalerei einem deutschen Publikum nah.

Aharon Appelfeld, Horst Bienek, Albert Camus, Jürgen Fuchs, André Glucksmann, Václav Havel, Gustaw Herling, Edgar Hilsenrath, Pavel Kohout, Arthur Koestler, Czesław Miłosz, Raissa Orlowa-Kopelewa, Hans Sahl, Manès Sperber bevölkern das Museum einer intellektuellen Generation, die „jenseits von Reaktion und Revolution auf der Machbarkeit reformerischen Fortschritts beharrte(n)“. Marko Martins work in progress solcher Lebensbilder knüpft erkennbar an John F. Kennedys berühmte „Profiles in Courage“ an.

Das neue Buch vervollständigt das progressistische Pantheon um jene, die nicht auf dem Umweg über eine kommunistische Verirrung auf Reformpositionen gelangt sind. Sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf Menschen, die von vornherein wussten, was freie Denkerinnen und Denker von den Iossif Dschugaschwilis, Lawrenti Berias und Walter Ulbrichts dieser Welt zu gewärtigen hatten und was den Demokratien heute von den Wladimir Putins und Sergej Lawrows droht.

Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft

Es geht um Ludwig Marcuse, Alice Rühle-Gerster und ihren Mann Otto, um Hermann Broch, Primo Levi, Jean Améry, Fritz Beer, Hilde Spiel, Hans Habe, Friedrich Torberg. Aber auch die Kommunistin Anna Seghers und der Kommunist Leo Lania werden in deren Reihe gestellt.

In angenehmem Parlando, versetzt mit vielfältigen Hinweisen aufs politisch Aktuelle, bringt Marko Martin der Leserin zu lebendiger Anschauung, mithilfe welcher Erfahrungen, durch welche Intuitionen und Impulse diese vergessenen Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft auf ihre Freiheitspositionen gelangt sind.

Eine der zahlreichen geistesgeschichtlichen Überraschungen, mit denen sein Buch aufwartet, ist die verschwiegene Rolle, die der american pragmatism im Motivgeflecht dieser Generation gespielt hat. Die Ideen William James’ haben im amerikanischen Exil Ludwig Marcuse inspiriert, der große Pragmatist James Dewey hat, als Vorsitzender der internationalen Kommission zur Verteidigung Leo Trotzkis, in Mexiko Otto Rühle und Alice Rühle-Gerster beeindruckt.

Zusammen mit der „Kritischen Theorie“ und vielen Exilierten aus jener Generation ist die amerikanische Freiheitsphilosophie nach 1945 ins re-education-Deutschland gereist, wurde hier dann aber im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno bald vergessen. Erst in den Jahren um 1989 hat sie durch Richard Rorty wieder ein Gastspiel gegeben.

Die Frage des Titels, „Brauchen wir Ketzer?“, ist rhetorisch. Wir brauchen sie dringend, versteht man nach der Lektüre, und nicht in jenem banalisierenden Sinn eines „Querdenkertums“, das seinen Opportunismus in den letzten Jahren politisch offenbart hat, sondern im Verstand eines Denkens, das den freien einzelnen Menschen in den Mittelpunkt politischen Handelns stellt.

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2 Kommentare

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  • Danke. Wo Wacke …gekauft.



    vllt der KLAPPENTEXT



    Wiederholt sich Geschichte? Angesichts der aktuellen Ereignisse liest Marko Martin vermeintlich "alte" Bücher neu und entdeckt beunruhigende, aber auch erhellende Parallelen. Die Frage "Brauchen wir Ketzer? " des ersten Arco-Autors Fritz Beer im Titel aufgreifend und Hermann Brochs "Der Intellektuelle ist ... sozusagen der 'Ketzer an sich'" im Sinn, wendet er sich scharfsichtigen Autorinnen und Autoren zu, auf die zu wenig gehört wurde: Hatten die Schriftsteller Friedrich Torberg und Hans Habe nicht bereits 1938, im Jahr der trügerischen westlichen Hoffnung auf "Peace for our Time" - unter Preisgabe Österreichs und der Tschechoslowakei an Hitler - die Schrecken des Kommenden feinnervig erspürt und in Romanen beschrieben? Hatten nicht zwei so unterschiedliche Essayisten wie Jean Améry und Ludwig Marcuse die rechtswie linksideologischen Manipulationen ihrer Zeit luzid durchschaut? Hatte die deutschsprachige Prager Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel in ihrem mexikanischen Exil einen behäbigen westlichen Liberalismus nicht ebenso präzis analysiert wie die mörderischen Machttechniken des Stalinismus - darin vergleichbar dem aus Charkiw stammenden Romancier Leo Lania, einem Freund Willy Brandts? Hatte nicht selbst in der DDR Stefan Heym vermocht, den herrschaftskritischen Intellektuellen zum Protagonisten seiner Bücher zu machen? Und war nicht sogar die angepaßtere Anna Seghers in ihren karibischen Novellen zu einer Art literarischer Pionierin postkolonialen Schreibens geworden? Hilde Spiel und Jeanne Herrsch, Primo Levi, Fritz Beer oder Hermann Broch - sie alle waren säkulare jüdische Schriftsteller, luzide Ketzer anstatt wirrköpfige "Querdenker", die, oft unter großem persönlichen Risiko, ihre Zeit beschrieben und uns noch heute viel zu sagen haben. Marko Martins neues Buch knüpft an sein hochgelobtes dissidentisches Denken an, ist eine Erinnerung an tapfere Menschen und gleichzeitig Einladung, durch Lektüren unsere gege

  • it.wikipedia.org/wiki/Fratelli_Rosselli de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Rosselli Widerstand ganz ohne ideologische Umwege ....



    * In ebender diesen zwei (1937 von französischen Faschisten ermordeten) Demokraten gewidmeten Straße in Florenz (Viale Fratelli Rosselli) veranstaltete ein Florentiner Oberbürgermeister, dann italienischer Parteichef, dann Ministerpräsident und dann Parteidissident (mit wohl etwas übergroßem Ego) seine jährliche Kongress/Show/Talkshow/Pressedauerkonferenz zum Thema: weg mit dem Establishment (und insbesondere den ehemaligen Kommunisten) in der Parteiführung des PD. Hat auch nix genützt: Die Ex-Kommunisten ham sich in die Kleinstparteibedeutungslosigkeit verabspaltet, dafür sind jetzt Mussolinis Tiffosi am Ruder im Land.