Posthumes Buch von Richard Rorty: Keine höhere Wahrheit

An allem ist zu zweifeln: In seinen nachgelassenen Vorlesungen präsentiert sich Richard Rorty als „Werterelativist“ mit moralischer Klarheit.

Richard Rorty

Hielt die Ironie hoch: Richard Rorty (1931-2007) Foto: Bridgeman

Bevor Richard Rorty vor 15 Jahren starb, galt er als der bedeutendste lebende Philosoph der Welt. Man kann das mangels Philosophenwaage naturgemäß schwer messen, aber in Sachen Einfluss und Zitierungen trifft dieses Urteil gewiss zu.

Bauchspeicheldrüsenkrebs sei bei ihm diagnostiziert worden, hatte er davor an seinen Freund Jürgen Habermas geschrieben, dieselbe Krankheit, „die Derrida killte“. Seine Tochter, so der vollendete Ironiker Rorty, vertrete daher die Hypothese, dass diese Art des Krebses von „zu viel Heidegger-Lektüre“ herrühre.

Jetzt legt der Suhrkamp Verlag eine der grundlegendsten Arbeiten von Rorty vor, Vorlesungen nämlich, in denen er die wesentlichen Kernpunkte seines philosophischen Denkens durchbuchstabiert. „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ ist die Vortragsreihe übertitelt, darin versuche Rorty nichts weniger als die „Vollendung der Aufklärung“, wie sein Philosophen-Kollege Robert B. Brandom in der Einleitung notiert.

Richard Rorty: „Pragmatismus als Anti­autoritarismus“. Heraus­gegeben

von Eduardo Mendieta. Übersetzt

von Joachim Schulte. ­Suhrkamp Verlag,

Berlin 2023, 454 Seiten, 34 Euro

Wenn Aufklärung die Vernunft aus den Fängen von Autorität und Theologie, von Metaphysik und irgendwelchen Letztbegründungen befreit habe, so ist sie, können wir Rorty interpretieren, doch auf halbem Wege (oder zumindest knapp vor dem Ziel) stehen geblieben. Immer wieder suchte sie nach „Wahrheit“, nach universalistischer Gültigkeit, biss sich aber damit in den Schwanz.

Größer als das Subjekt

Proklamierte sie einerseits den Imperativ, sich des eigenen Verstandes zu bedienen zwecks Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Subjektes, grübelte sie doch immer über irgendetwas, das größer als dieses Subjekt sei.

Rorty dagegen meinte: „Wahrheit ist nirgendwo da draußen“, sie existiere weder unabhängig von den sprachlichen Äußerungen noch von Traditionen und Begrenztheiten derer, die sie aussprechen. Das Denken müsse ohne Autorität auskommen – die Grundthese, die titelgebend wurde.

Später musste er sich anhören – etwa vom jüngst verstorbenen Papst Joseph Ratzinger –, ein Wegbereiter eines teuflischen Werterelativismus zu sein; Rorty selbst bemerkte in seiner lakonischen Art, die allzu grandiose Formeln verabscheute, dass „Pragmatiker wie ich mit den antimetaphysischen, ‚postmodernen‘ Denkern sympathisieren“.

Dabei unterstellt ja Rorty gerade nicht, das wird in seinen Vorlesungen noch einmal deutlich, dass alles gleich und Werturteile nicht zu treffen seien – im Gegenteil. Er unterstreicht nur, dass sie sich weder auf höhere Wahrheiten noch auf tiefere Einsichten über ein angebliches „Wesen“ hinter den „Erscheinungen“ stützen können. Unser Gefühl für „moralische Abscheulichkeit“ etwa sei ein „korrigierbares Kulturvermächtnis“, es entspringe keiner Objektivität, sondern entstehe „durch Intersubjektivität“.

Nicht Wahrheit, sondern Hypothese

Dass alle Menschen Brüder werden sollen, könne nicht als Wahrheit proklamiert werden, sondern allenfalls als Hypothese, die beweisen müsse, dass sie in der Praxis „das menschliche Leben künftig besser“ machen würde. Und diesen Beweis könne die Hypothese durchaus erbringen. Rorty: „Daher glaube ich, dass das Thema ‚Wahrheit‘ keine Relevanz für die demokratische Politik erlangen kann.“

Natürlich wolle er als Hochschullehrer auch „erziehen“. So wie die SS-Männer die Hitlerjugend zu Grausamkeit erziehen wollten, wolle er seine Schüler und Schülerinnen zu demokratischen Subjekten „umerziehen“, die die Gleichheit hochhalten. Nur meine er, dass es keine unnatürliche Instanz jenseits menschlicher Interaktion gebe, die beglaubigen könne, dass sein Motiv ein „wahreres“ als jenes der SS-Leute sei.

So dekonstruierte Rorty alle Begrifflichkeiten metaphysischer Schwundformen wie Wahrheit, Erhabenes, „die Realität“ (Letztere existiere ja auch nicht jenseits kommunikativer Praktiken) und andere Absolutheitsansprüche. Auch Menschenrechte seien eine Konstruktion, und die Behauptung, sie hätten immer schon existiert – also schon bevor man sie anerkannte –, sei eine sinnlose Aussage. Was wir so salopp ein moralisches Gesetz nennen, sei ein „konkretes Geflecht sozialer Praktiken“.

In seinem Hauptwerk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ hatte Rorty die Ironikerin als eine Person charakterisiert, „die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind“ – also zufällig und veränderlich, eine Person, die „unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular (hegt), das sie gerade benutzt“.

Dekonstruktion mit Standpunkt

All das kulminiert bei Rorty gerade nicht in Relativismus im Sinne von Standpunktlosigkeit durch Dekonstruktion von allem. Als Sohn undogmatischer Gewerkschaftsaktivisten in New York City geboren, war das Ziel einer gerechteren Welt stets der Polarstern, dem er folgte, und in seinen letzten Lebensjahren warf er sich zunehmend in politische Debatten, nicht zuletzt mit seinem kleinen Buch „Achieving our Country“ („Stolz auf unser Land“, so der Titel der deutschen Ausgabe).

Er gab viele Interviews, polemisierte gegen eine auf Differenz und Sprachspiele orientierte Kulturlinke, die die Nöte der einfachen Leute vergesse, kritisierte die „schwache und ineffektive Opposition“, zu der die US-Demokraten geworden seien. Er war viel beschäftigt, auch deshalb hat er es höchstwahrscheinlich verabsäumt, die nun so spät aufgelegten Vorlesungen in den Druck zu bringen.

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