Buch über Urbanität und Freiheit: Die Bühne der Zusammenstöße
Ist die Emanzipation in Großstädten wirklich nur um den Preis der Zerrissenheit möglich? Eine Neuerscheinung stellt sich dieser Frage.
Stadtluft, so wusste es schon das Mittelalter, Stadtluft macht frei, allerdings: Es scheint, als ob das, was man „Stadt“ nennt, erst in der Moderne zu sich gekommen ist. Stadtluft macht frei – heißt das, dass Befreiung und Emanzipation erst in der Stadt möglich wurden?
Die Stadt – obwohl sehr viel früher entstanden – ist die Lebensform der Moderne. Ohne dass man sich ihrer immer bewusst ist, prägt sie doch Alltag so gut wie Erleben, stellt sie den vorbewussten, unthematischen Hintergrund allen Handelns, Denkens und Fühlens dar.
Der Gießener Historiker Friedrich Lenger entfaltet die Geschichte der „europäischen“ Stadt heute – zu Beginn eines 21. Jahrhunderts, in dem Global Cities wie New York, Hongkong oder Delhi die Welt mindestens so stark prägen werden wie London, Paris, Wien oder Berlin das 19. und 20. Jahrhundert geprägt haben.
Friedrich Lenger: „Metropolen der Moderne“. C. H. Beck, München 2013, 757 Seiten, 49,95 Euro
In seiner Studie verbindet er die Geschichte des Wohnens, von Architektur und Stadtplanung mit der Geschichte von Klassenkämpfen und der Evolution der Technik; mit vielfältigen Themen, die er ebenso im Blick hat wie den durch die Boulevardpresse verursachten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.
Eine Geschichte des Wohnens und der Klassenkämpfe
Lenger unterteilt den von ihm beobachteten Zeitraum in drei Abschnitte: in die klassische Epoche seit 1850, mit Exkursen zu dem schon von Walter Benjamin ausgezeichneten Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts; sodann in die Epoche der Weltkriege, in der es um die innerliche und äußerliche Zerstörung städtischen Lebens, den „Urbizid“ geht, und schließlich Europas Städte seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts.
Dabei war zunächst zu klären, welcher Siedlungstyp überhaupt als „europäische“ Stadt zu gelten hat. Lenger weiß, dass er sich des Orientalismus verdächtig macht, wenn er als Gegentyp der „europäischen“ die „islamische“ Stadt bestimmt: einen Siedlungstypus, der in baulicher Gestalt und sozialer Organisation durch Geschlechtertrennung und ethnisch segregierte Wohnviertel bestimmt gewesen sei.
Nach dieser nicht wirklich informativen Unterscheidung wird es möglich, den Blick von Paris und London, von Wien und Berlin zu lösen und die ganze Bandbreite europäischer Städte von Barcelona im Westen über Lemberg bis nach Istanbul im Osten in den Blick zu nehmen.
Trotz einer Fülle ethnischer, kultureller und politischer Differenzen ergeben sich dann eine Reihe überraschender Gemeinsamkeiten: So fanden Wanderungen keineswegs nur vom Land in die Stadt statt; Wanderungen, die allemal zu Unterschichtungen mit der Folge klassenbezogener Segregation von Stadtteilen führten.
Die moderne Stadt aus postkolonialer Perspektive
Folgt man der Geschichte der modernen Stadt in postkolonialer Perspektive, so ist einzuräumen, dass Lenger dieses Thema mit der Analyse von Hafenstädten und den – man glaubt es kaum – in zoologischen Gärten stattfindenden „Völkerschauen“ durchaus abhandelt, er jedoch dem Umstand, dass etwa London und Paris Hauptstädte weltumspannender Imperien waren, die im 19. Jahrhundert in engstem ökonomischem und kulturellem Austausch mit den Kolonien standen, zu wenig Augenmerk schenkt.
Immerhin: Der bürgerliche Schauder vor der Fremdheit Asiens und Afrikas führte in Städten wie London schnell zur vermeintlichen Entdeckung eines inneren Dschungels, der – obwohl räumlich so nah – allemal so fremd und unheimlich wie das „Herz der Finsternis“ wirkte.
Bemühungen um gesundes Wohnen, um Armenhilfe und verbesserte Erziehung, wie sie als Politik der Disziplinierung, aber auch der Emanzipation in beinahe allen Städten betrieben wurden, gerieten schnell in den Verdacht, „sozialistisch“ zu sein.
Dabei stand im Zentrum sozial- und gesundheitspolitischer Bemühungen in der städtischen Klassengesellschaft vor allem die Frage nach bezahlbarem Wohnraum für die meist alleinstehenden, in der Industrie schuftenden Arbeiter sowie die sich im Dienstleistungsbereich plagenden Arbeiterinnen.
Sie blieben unter sich: Übervölkerte, kleine Wohnungen wiesen neben Familienangehörigen sogenannte „Bettgeher“ auf, Männer und Frauen also, die für einige Stunden ein Bett als Schlafplatz mieteten, um es kurz darauf – im Schichtsystem – einer anderen Person zu überlassen.
Elend der Arbeiter hier, Kulturtempel dort
Dem Elend von Arbeitern und Dienstboten hier korrespondierten leuchtende Kulturtempel dort: Museen, Theater und Opernhäuser, in denen sich die Klasse der Bourgeois präsentierte. So wurde die moderne europäische Stadt zur Bühne, zu einer Öffentlichkeit, in der Lebensformen und Lebensentwürfe unversöhnlich aufeinanderstießen – etwa anlässlich von Demonstrationen der Arbeiterschaft unter den Augen der stets argwöhnischen Staatsmacht.
Nicht zuletzt aber – und das weckt Zweifel an der Entgegensetzung von europäischer und orientalischer Stadt – war die moderne Stadt in ihren Anfängen ein Ort, in dem eine eigene Genderordnung herrschte. In nicht wenigen Stadtvierteln und Straßen durften sich „respektable“ Damen nicht sehen lassen, während arbeitende junge Frauen – zum Beispiel Kellnerinnen – in den Augen der Obrigkeit grundsätzlich unter Prostitutionsverdacht standen.
Schließlich bemächtigte sich die Kulturkritik der Großstadt als Ursache unsteter Subjektivität. So stellte der Soziologe Georg Simmel 1903 fest: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel innerer und äußerer Eindrücke hervorgeht.“
Diese – Simmel selbst trifft das nicht – meist antiurbane und nicht selten antisemitische Kulturkritik traf nach dem nicht nur an der Front herrschenden Elend des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, zumal in Berlin, auf eine sich selbst fiebrig feiernde liberale Kultur.
Berlin schien darüber hinaus Ort eines permanenten Bürgerkriegs zwischen kommunistischen und nationalsozialistischen Milizen zu sein – ein Mythos, der jedoch, betrachtet man die Kriminalstatistiken, nicht zutrifft. Im Kaiserreich war die registrierte Gewalttätigkeit alles in allem nicht geringer.
Das Ende der städtischen Vielfalt
Für Deutschland schließlich kann die NS- und Weltkriegszeit als Epoche des „Urbizids“ gelten: Nicht erst die Bombenkriege zerstörten das städtische Leben – schon vorher vernichtete die nationalsozialistische Politik mit ihren Pogromen, ihrer Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung, der Juden, alles, was die Vielfalt städtischen Lebens einmal ausgemacht hatte.
Am Ende standen zerstörte Städte, Trümmerwüsten – paradoxerweise von nicht wenigen Raumplanern herbeigesehnt: bestehe doch jetzt endlich die Chance, die moderne Stadt grundlegend neu aufzubauen.
Ans Ende seines Buchs hat Lenger Überlegungen zu vergeblichen Bemühungen einer Entproletarisierung großer Städte, zu sozialen und politischen Brüchen in den Großstädten des Warschauer Pakts sowie zu Wohn- und Lebensformen der Achtundsechziger gestellt.
Fülle an kultur- und technikhistorischem Material
Der mit 64 ansprechenden Farbtafeln zu klassischen Großstadtgemälden versehene Band bietet eine solche Fülle an sozial-, kultur- und technikhistorischen Informationen, dass eine Summe nicht zu ziehen ist. Der Autor selbst hat der Versuchung widerstanden, aus seinen Erkenntnissen geschichtsphilosophische Konsequenzen zu ziehen.
1960 hat der in der NS-Zeit mindestens opportunistische Philosoph Joachim Ritter in einem berühmten Aufsatz zur „großen Stadt“ die These des griechischen Philosophen Aristoteles, dass „Menschsein“ und „Stadtbürgerschaft“ dasselbe seien, zwar beglaubigt, aber um Hegels Einsicht in die „Entzweiung“ als Prinzip der Moderne ergänzt.
Sind also Freiheit, Emanzipation in der Stadt nur um den Preis der Zerrissenheit möglich? Lengers monumentale Darstellung unserer räumlichen Lebensform bietet Anlass, diese These zu überprüfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei