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Buch über Politik und GefühleDer Stolz der Hillbillys

Die Soziologin Arlie Russel Hochschild sucht in Kentucky nach den Gefühlen, die Menschen in die Arme von Trumps MAGA-Bewegung treiben.

Denkmal für einen Kohle­arbeiter in den Appalachen Foto: George Eteredge/NYT/Redux/laif

Warum wird ein Wahlkreis im östlichen Kentucky zu einer Hochburg der MAGA-Bewegung, obwohl dort früher Republikaner und Demokraten immer etwa gleich viel Anhänger hatten? Was motiviert die Menschen dort, Trump ihre Stimme zu geben, obwohl sie wirtschaftlich und sozial eher von den Maßnahmen der Regierung von Joe Biden profitiert haben? Arlie Russell Hochschild, eine der führenden US-amerikanischen Soziolog:innen, verbrachte zwischen 2017 und 2023 viel Zeit im Wahlkreis KY-5, Pike County, um Antworten zu finden.

Die Menschen, mit denen sie sprach, werden in den USA gerne Hillbillys, Hinterwäldler, genannt. Sie stehen in dem Ruf, kulturell rückständig zu sein, einen seltsamen Dialekt zu sprechen, ihren Stolz aus harter Arbeit und wirtschaftlicher Eigenständigkeit zu beziehen und bei Konflikten allzu schnell die Pistole zu ziehen. Der Steinkohlebergbau mit seinen vergleichsweise guten Verdienstmöglichkeiten lockte ihre irisch-schottischen Vorfahren Ende des 19. Jahrhunderts in die südlichen Appalachen.

Mit dem Niedergang der Kohle seit den 1990er Jahren kamen Armut, Verwahrlosung, Drogen. Wer konnte, ging fort und suchte Arbeit in den Industriestädten des Nordens. J. D. Vance setzte der Region 2016 mit seinem Memoir „Hillbilly-Elegie“ ein düsteres Denkmal. Schon damals ein Erzkonservativer, wenn auch noch kein Unterstützer Trumps, sah er die traditionelle Eigenverantwortung der Hillbillys ersetzt durch eine von Sozialprogrammen beförderte Hilflosigkeit.

Hochschilds gründlich recherchierte und sehr zugängliche Studie liest sich über weite Strecken wie eine Gegendarstellung. Während Vance etwa verwahrloste Nachbarn beschreibt, die ihre Essensmarken erst in Geld und dann in Drogen umtauschen, interviewt Hochschild zwei ehemals Suchtkranke, die in einer Rehabilitationseinrichtung ihre Abhängigkeit überwanden und nun anderen aus der Sucht heraushelfen. Sie zeichnet auch nach, wie die Werbekampagnen für Oxycontin gerade die Bundesstaaten ins Visier nahmen, in denen die Verschreibung von Opiaten eher lax kontrolliert wird.

Eine Geschichte der beschädigten Selbstachtung

Methodisch knüpft Hochschild in Kentucky an die Gespräche mit Tea-Party-­An­hän­ger:in­nen an, die sie in den 2010er Jahren in Louisiana führte. Ihre auf diesen Gesprächen beruhende Studie „Fremd in ihrem Land“ stieß 2016 auf großes, auch internationales Interesse. Denn Hochschild adressiert ein Paradox: Diejenigen, die unter der Naturzerstörung durch die petrochemische Industrie am meisten leiden, unterstützen eine Politik, die im Namen individueller Freiheit den Raubbau an ihren Lebensgrundlagen fortsetzt.

Hochschild fand in Louisiana ein allgemein geteiltes persönliches Erleben gesellschaftlicher Entwicklungen vor, das sie als „tiefe Geschichte“ bezeichnet: Die Menschen hatten die Erwartung nicht aufgegeben, durch eigene Anstrengung wohlhabend und glücklich zu werden und so den Amerikanischen Traum vom Aufstieg zu verwirklichen. Sie sahen sich als Bergsteiger, die geduldig anstehen auf dem Weg zum fernen Gipfel des ökonomischen Erfolgs, aber dann erfahren müssen, dass sich diejenigen vordrängeln, an die sich die Sympathien des kulturellen Mainstreams und die staatlichen Hilfsprogramme richten: Frauen, Schwarze, Flüchtlinge und Einwanderer.

Es geht um Gefühle und ihren Einfluss auf politische Einstellungen. Auch in Kentucky sucht Hochschild nach der tiefen Geschichte der Einwohner:innen. Sie setzt sich der verunstalteten Landschaft aus, deren Berge buchstäblich enthauptet wurden, um Steinkohle im Tagebau gewinnen zu können. Sie lässt die Einkaufsstraßen mit ihren zugeklebten Schaufenstern auf sich wirken. Sie besucht die Trailerparks, wo die Ärmsten wohnen, und eine Reha-Einrichtung für Suchtkranke. Die Aussagen ihrer Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen ergänzt sie durch Statistiken und soziologische Befunde.

Als Ursache des politischen Dammbruchs im Wahlkreis KY-5 macht Hochschild die beschädigte Selbstachtung, den „geraubten Stolz“ seiner Be­woh­ne­r:in­nen aus. Denn auch in Kentucky wird die Gültigkeit des Amerikanischen Traums nicht infrage gestellt, auch dann nicht, wenn Bergwerke oder Fabriken schließen und bezahlte Arbeit nicht mehr zu haben ist. Je länger die Arbeitslosigkeit anhält, desto mehr geben sich die Betroffenen selbst die Schuld an ihrer Lage. So gesellen sich zum Mangel die Selbstvorwürfe.

In der tiefen Geschichte aus Louisiana, die Hochschild in Kentucky zur Diskussion stellt, erkennen auch die Ein­woh­ne­r:in­nen von KY-5 sich wieder. Sie ergänzen diese Geschichte um ein weiteres Element: Während sie beim Anstehen auf dem Weg zum Gipfel von denjenigen regelrecht schikaniert werden, die auf der Seite der „Vordrängler“ stehen, tritt mit Trump ein Unterstützer für die ehrlichen, zurückgesetzten Leute auf die politische Bühne. Trump mag seine Fehler haben, aber er setzt sich für Leute wie sie ein. Weil Hochschilds Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen so fühlen, können nicht einmal Gerichtsurteile gegen Trump ihre Sympathien für ihn verändern.

Es geht um die Fleischtöpfe, aber nicht nur. Hochschild sieht neben der materiellen eine „Stolz-Ökonomie“ am Werk. In der Vergangenheit konnten die Hillbillys stolz sein auf ihre Arbeit, auf ihre Erfahrungen und Fähigkeiten, auf ihr Durchhaltevermögen unter harten Bedingungen, auf ihre Selbständigkeit und ihren Beitrag zur Gemeinschaft. Mit dem Schwund ihrer Arbeitsplätze sind diese Eigenschaften jedoch nichts mehr wert.

Auf die Schamgefühle der Deklassierten richten sich die Aktivitäten der politischen Rechten, die das einst stolze Selbstbild männlicher weißer Amerikaner wiederherstellen wollen. Hochschild wird Zeugin eines waffenstarrenden Neonaziaufmarschs in Pikeville, dem sich zu ihrer Erleichterung nur drei Einheimische anschließen. Sie notiert aber auch, dass dieser Aufmarsch kurze Zeit später in Charlottesville eine gewalttätige Fortsetzung findet.

Zusammen mit Trump richten sie ihren Stolz wieder auf

Trump und seine MAGA-Bewegung sprechen den verletzten Stolz verarmter Weißer nicht ganz so martialisch, aber umso erfolgreicher an. Hochschild erkennt ein Ritual der öffentlichen Aufregung, das Trump immer wieder in Gang setzt und das dafür sorgt, dass sich seine Anhängerschaft hinter ihm versammelt.

Im ersten Schritt dieses Rituals stellt Trump eine provozierende Behauptung oder Forderung auf, etwa seine Behauptung von 2015, die mexikanischen Einwanderer seien Vergewaltiger. Erwartungsgemäß reagieren in einem zweiten Schritt einige Wortführer der öffentlichen Meinung mit moralischer Empörung, sodass Trump als der Beschämte dasteht. Nun kann sich Trump – Schritt drei – als Opfer inszenieren und seinen An­hän­ge­r:in­nen nahelegen, dass sie ebenso wie er jederzeit zu Opfern öffentlicher Beschämung werden können. Im vierten Schritt schlägt Trump zurück. Er bedroht seine Kritiker, zieht sie vor Gericht, verlangt Schadenersatz, macht sie zu Opfern und steht als Sieger da.

Hochschild ist überzeugt, dass das Ritual und vor allem sein vierter Schritt bei Trumps An­hän­ge­r:in­nen eine kathartische Befreiung bewirkt. In ihrer Fantasie nehmen sie zusammen mit ihrem Anführer Rache für eine gemeinsam erlittene Beschämung und richten so ihren verletzten Stolz wieder auf.

Trumps offensichtliche Lüge von der gestohlenen Wahl 2020 entfaltet nach Hochschilds Überzeugung auch deshalb eine so große Wirkung, weil sie dem Grundgefühl seiner An­hän­ge­r:in­nen entspricht, dass ihnen selbst etwas Essenzielles geraubt worden sei: ihre Arbeit, ihr sozialer Status, ihre Werte, ihr Stolz.

Die Empathie-Mauer überwinden

Es gibt viele irrationale Momente in der Denkweise ihrer Pro­ban­d:in­nen, und Hochschild versucht sie als Ausdruck einer bedrängten Lage zu verstehen. Ihr Anspruch geht dahin, sich einzulassen auf die Erfahrungen und Denkweisen von Menschen auf der anderen Seite der politischen Spaltung. Die „Empathie-Mauer“ (Hochschilds Begriff) zu überwinden zwischen der gebildeten urbanen Mittelschicht und den Zukurzgekommenen im ländlichen Amerika. Ihren Gesprächsberichten lässt sich entnehmen, wie das geht: mit Wertschätzung, Verständnis und Verzicht auf Widerspruch selbst dort, wo ihr Gegenüber sie mit haarsträubenden Aussagen konfrontiert.

Hochschilds Befunde sollten auch in Deutschland zu denken geben, denn Parallelen drängen sich auf. Verlassene Bergwerke und geschlossene Fabriken lassen sich hier genauso finden wie in Kentucky, dazu entvölkerte Ortschaften und bei ihren Be­woh­ne­r:in­nen das Gefühl, abgehängt zu sein. Auf den geraubten Stolz derjenigen, die Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg erleiden oder sich davon bedroht fühlen, richtet sich auch in Deutschland die Propaganda der politischen Rechten. Was sonst soll die ständige Abwertung migrantischer Menschen bewirken als eine perverse Reparatur biodeutschen Selbstgefühls? Allzu oft setzen die kalkulierten Provokationen der AfD ein Ritual der öffentlichen Aufregung in Gang, das ähnlich wirkt wie von Hochschild beschrieben.

Vor allem stellt sich die Frage, welche Folgen für das politische Handeln der demokratischen Kräfte Hochschilds These haben müsste, dass geraubter Stolz ein entscheidender Faktor beim Aufstieg des Rechtspopulismus ist.

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