Buch über Friedrich Hölderlin: Kronzeuge der Anti-Psychiatrie
Die Psychiater Uwe Gonther und Jann E. Schlimme räumen in ihrem neuen Buch mit dem Bild von Hölderlin als einem umnachteten Genie auf.
Gerade Künstler, denen eine psychopathologische Diagnose zuteil wurde und die Psychiatrieerfahrungen sammeln mussten, werden teilweise geradezu als Ikonen der Angst-Lust-Vorstellung von der wahnsinnigen Genialität gehandelt. Wie die beiden Friedrichs: Nietzsche und Hölderlin. Verdämmerte der eine zum Ende des 19. Jahrhunderts in progressiver Paralyse, was wissenschaftlich gut beschrieben ist, tobte der andere zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinem Lebensende entgegen, stapfte in einem Tübinger Turm am Neckar hin und her und hoch und runter, endlos Schuhsohlen löchrig laufend – wie ein hospitalisiertes Tier.
So die Legende. Die Beweislage ist durchaus lückenhaft. So wird auch behauptet, Hölderlin sei ein Simulant gewesen, um sich vor politischer Verfolgung zu schützen und die zweite Lebenshälfte entspannt genießen zu können. Denn bis zum 36. Geburtstag war sein Daseinsstress enorm, weder als Künstler war Hölderlin so richtig erfolgreich noch erfüllte sich seine Hoffnung auf eine auf Deutschland überschwappende Französische Revolution. Als getrieben reisender Hauslehrer fühlte er sich zudem nirgendwo zu Hause – und dann galt es auch noch den Tod seiner großen Liebe zu betrauern.
Resigniertes Flüstern
Schmerzhaft und überfordernd: Da kann man schon mal wunderlich werden, seelenkrank. Was Literaturwissenschaftler auch in seinem Werk nachzuweisen versucht haben. Der hymnische, kraftvoll sprachathletische Ton der frühen Gedichte verwandelte sich später in ein melancholisches bis resigniertes Flüstern, vieldeutig dunkel. Zuvor war Hölderlin zumindest einmal auch auf den Weg in den hellen Norden. Brach er doch nach Hamburg auf im Sommer 1796 mit der heimlich geliebten „Diotima“ Susette Gontard, der Gattin seines Frankfurt Arbeitgebers, dem Bankier Jakob Friedrich Gontard. Vor den anrückenden napoleonischen Truppen wollte er dessen Frau in Sicherheit bringen bei ihren hansestädtischen Eltern, einer Kaufmannsfamilie mit Stadthaus am Jungfernstieg und Sommerhaus in Ottensen. Das Liebespaar machte dann aber auf halbem Weg in Bad Driburg Halt, einem abgelegenen Kurort im Teutoburger Wald, wo sie unerkannt turteln, diskutieren, schreiben konnten.
Vielleicht lässt sich in der norddeutschen Weite besonders klar analysieren und mit platter Vernunft anhand schriftlicher Überlieferungen ein sanfter Blick in die brodelnde Psyche des Dichters werfen. Bremen ist Hölderlin-Fixpunkt, seit Dietrich Eberhard Sattler die historisch-kritische Hölderlin-Ausgabe dort erarbeitet hat, in Oldenburg lehrt mit dem Philosophieprofessor Johann Kreuzer zudem der aktuelle Präsident der Hölderlin-Gesellschaft und Herausgeber des Hölderlin-Handbuchs.
Inhaltsleere Klischees
Und jetzt melden sich langjährige Hölderlin-Forscher als Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie wieder zu Wort. Der Leiter der Bremer Ameos-Kliniken, Uwe Gonther, sowie der Berliner Jann E. Schlimme, unter anderem Privatdozent an der Medizinischen Hochschule Hannover, wollen aufräumen mit dem romantischen Bild des umnachteten Dichters, „der über die Tiefe seiner Einsichten verrückt geworden ist“ und dem psychiatrisierenden Bild des unverständlichen Schizophrenen, „der von der Wucht seiner Krankheit dauerhaft realitätsverwirrt geworden ist“. Beide Vorstellungen seien „inhaltsleere Klischees“ heißt es in dem „Hölderlin“-Buch, das soeben im Psychiatrie-Verlag erschienen ist. Aber genau diese Klischees seien in vielen Texten zu Ehren des 250. Hölderlin-Geburtstages, auch in der taz, ungeprüft reproduziert worden, ärgert sich Gonther. Seiner Ansicht nach sei Hölderlin keineswegs umnachtet, aber auch nicht uneingeschränkt gesund gewesen. Was denn nun?
Darum geht es in dem transparent argumentierenden, die Quellenlage üppig zitierenden und den wissenschaftlichen Hintergrund prägnant formulierenden Buch. Zu Hölderlins Selbstaussagen in Gedichten und Briefen werden die Expertisen zeitgenössischer Ärzte erklärend gestellt und mit weiteren Dokumenten die Perspektiven der Verwandten und Freunde verdeutlicht. Nie verhehlt das Autorenduo, dass ihre Schlussfolgerungen stets Behauptungen, keine Wahrheiten sind – und einem Erkenntnisinteresse folgen: der Frage, wie Genesung nach schweren psychischen Krisen gelingt.
Gerade aus den Aufzeichnungen der Familie des Schreinermeisters Ernst Zimmer, die den entmündigten Hölderlin von 1807 bis 1843 pflegte, und von Schriftstellerkollegen wie Friedrich Wilhelm Waiblinger sowie Christoph Theodor Schwab ziehen die Autoren den Schluss, der Dichter habe zu einem mehr oder weniger guten Leben gefunden nach den traumatisierenden Erfahrungen während der Zwangsbehandlung im Universitätsklinikum der Stadt, die seinen Gesundheitszustand wohl eher verschlechtert, denn verbessert hat.
Die von Gonther/Schlimme ausgesuchten historischen Zitate lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass Hölderlin nicht entindividualisiert vor sich hin vegetierte, auch nicht den Wahnsinnigen im Turm spielte, sondern rekonvaleszierte mit ausgedehnter sozialer und künstlerischer Aktivität, er habe musiziert, Briefe verfasst, Gespräche geführt, ist spazieren gegangen, habe gelesen, sich mit dem Alltag der Wirtsfamilie und dem Weltgeschehen auseinandergesetzt, auch als eine Art Selbstverständigung weiterhin Lyrik verfasst. Also eine „eigene, ganz ihm gemäße Genesungsleistung aufgeboten“, „beschaulich und friedvoll“ – Gonther/Schlimme sprechen ehrfürchtig von „Selbstentfesselung und Selbstermächtigung“ eines im Leben Verirrten, vom Leben aber nicht Zerstörten.
Närrisch werdender Geist
Woran Hölderlin litt? Der behandelnde Arzt diagnostizierte „Manie als Nachkrankheit der Krätze“. Seine Therapie war, so beschreiben es die Autoren, eine Tortur. In der damaligen Sicht der Wahnsinnsdinge galt ein Krätze auslösendes Gift als Ursache eines närrisch werdenden Geistes. Also wurde Hölderlin in eine Zelle gesperrt, mit Garnen fixiert und mit Medikamenten geflutet, die ihn hinwegdämmern ließen. Um den angeblich im Kreislauf zirkulierenden Krankheitserreger aus dem Körper zu geleiten, konnten „schmerzhaft offene Entzündungen im Nacken angelegt“ werden, vor allem aber seien Abführmittel verabreicht worden, die zu blutigem, von Darmkrämpfen begleitetem Durchfall geführt hätten.
231 Tage war Hölderlin in einer derart barbarisch arbeitenden Psychiatrie gefangen. Entlassen wurde er 1807 als sterbenskrank mit maximaler Lebenserwartung von drei Jahren. Gestorben ist er erst 1843 – an einer akuten körperlichen, nicht psychischen Erkrankung..
An Hölderlin lässt sich exemplarisch zeigen, wofür später die Irren-Offensiven der Antipsychiatrie-Bewegung kämpften. Er war ein erstes Opfer der institutionalisierten Psychiatrie, sein Arzt hatte gerade mal drei Betten für eine entsprechende Sonderbehandlung in der Uniklinik. Hölderlin war aber auch einer der ersten, die mit alternativen Behandlungsmethoden zu guten Ergebnissen kamen: In der Ruhe des Turmlebens, so die These des Buchs, habe der Dichter Formen der Selbsttherapie gefunden.
Auflösung der Langzeitpsychiatrie
Bremen ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Mithilfe des Landes Bremen wurde 1988 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Langzeitpsychiatrie aufgelöst, die am Rande von Oldenburg gelegene Klinik Kloster Blankenburg. Der Aufbau von sozialpsychiatrischen Diensten in den Stadtteilen sowie eine ambulante Versorgung im eigenen Lebensumfeld und der Bau kleiner Wohneinheiten folgten. Bremen wollte so eine Vorreiterrolle bei der Reformierung der Psychiatrie übernehmen, an diesem Modell orientierten sich weitere Bundesländer.
Den geistigen Anstoß hatte Michel Foucault gegeben, der 1961 in seinem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ argumentierte, die westliche Psychiatrie habe „den Wahnsinn“ immer wieder „einzusperren“ versucht – nicht um Patienten zu heilen, sondern um sie wieder den bürgerlichen Moralvorstellungen zu unterwerfen und fit zu machen für eine Gesellschaft, die diese Probleme ja gerade hervorgerufen hatte.
Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass menschliches Verhalten nicht nur Folge physiologischer Prozesse, also mit Psychopharmaka zu beeinflussen ist, sondern der soziale Kontext, das Umfeld vor Ort ebenso viel Beachtung verdient. So war es eben bei Hölderlin. „Am richtigen Ort von den richtigen Menschen mit dem richtigen Maß an Nähe und Distanz wurde er voller Anerkennung geschützt, auch vor seiner eigenen Unfähigkeit, in der Welt selbstverständlich zurechtzukommen“, schreiben Gonther/Schlimme – Hölderlins Leben im Turm war geradezu das Musterbeispiel einer Wohnform des unterstützenden Miteinanders.
Auf halben Wege steckengeblieben
Die Autoren weisen darauf hin, dass für den Erkrankten vielleicht noch bessere Erfolge zu erzielen gewesen wären, hätte es eine psychosozialtherapeutische Begleitung über einen längeren Zeitraum in der häuslichen Gemeinschaft gegeben, um Hölderlin zu stabilisieren. Genauso klangen die Forderungen der Reformer in Bremen, und so klingen sie noch – denn dass die institutionenorientierte Behandlung einer wohnortnahen, personenorientierten Behandlung gewichen ist, kann nicht bestätigt werden. Die Reform ist auf halbem Wege stecken geblieben. „Da gibt es noch großen Nachholbedarf“, meint der Bremer Psychiater Andreas Reinecke, der ebenfalls mit Gonther über Hölderlin arbeitet.
Das Unverständnis über dessen fragmentierende, assoziative Sprache, in der das gefährdete Dasein, die zerscherbte Welterfahrung und das heimatlose Ich eine ideale Form fanden, hatte noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts zur Folge, dass sie als schizophrene Kunst bezeichnet wurde. Der Philosoph Karl Jaspers modifizierte diese Aussage in den 1920er-Jahren mit der Anmerkung, die künstlerische Produktivität wäre nicht im Ergebnis, aber in der Ursache krank. Irgendetwas mit Schizophrenie werfen heute noch viele als Stichwort zum Krankheitsbild Hölderlins in die Diskurse.
Suche nach dem Vater
In den 1960er-Jahren feierten psychoanalytische Interpretationen fröhliche Urständ, Hölderlins Texte wurden als Suche nach dem früh verstorbenen Vater oder als Folge des angespannten Verhältnisses zur Mutter gelesen, galten als Ausdruck von Depressionen und der Schwierigkeit, Geborgenheit bei Menschen zu finden, sollten Beweis sein für verdrängte Homosexualität.
Gonther/Schlimme bleiben da sehr zurückhaltend, greifen aber schon zum Fachjargon. Demnach war Hölderlin „psychisch krisenanfällig“ und wies „psychosoziale Einschränkungen auf“, die unter anderem auf unlösbaren Spannungen beruht hätten, die wohl jedem Menschen bekannt sind: Der Dichter „wollte dazugehören, wollte ankommen bei Orten und Menschen. Gleichzeitig wollte er für sich bleiben und war nur mit sich ganz bei sich.“
Eine unabsichtlich gewählte Reaktion auf diesen überfordernden Widerspruch sei die Psychose gewesen, ein Abwehrverhalten. Weitere hätte es gegeben als Folge auch anderer innerer und äußerer Konflikte. Und dann eben die glückliche Fügung mit der Schutzzone Turmzimmer und einer gütig empathischen Pflegefamilie: Ein „heimatliches Asyl, dies war mehr, als er vorher finden konnte“.
Die Autoren weisen auf die Vorläufigkeit aller Diagnosen hin, also auch der ihrigen. „Wir müssen uns erst von diesen Modellen und Konzepten lösen, um uns als Mensch zu begegnen.“ So ist ihr Buch nicht genial, nicht wahnsinnig, sondern einfach kompliziert vernünftig als Aufruf zur Enthospitalisierung und Entpsychiatrisierung zu lesen. Aus der Auseinandersetzung mit Hölderlin lässt sich einiges über die anhaltend aktuelle Psychiatriereform lernen.
Mehr über Hölderlin uns seinen Bezug zum Norden lesen Sie in der taz am Wochenende oder hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich