Experten über Psychiatrie in Bremen: „Ein Rückschritt in die Siebziger“
Die Reform der Psychiatrie hin zu mehr ambulanter Versorgung ist seit 2013 beschlossen, aber nicht realisiert. Ein Gespräch über die Gründe.
taz: 2013 hat Rot-Grün beschlossen, dass die psychiatrische Versorgung in Bremen dezentraler stattfinden und stärker ambulant ausgerichtet sein soll. Was ist seither passiert, Herr Pramann?
Klaus Pramann: Die Debatte gibt es schon seit dem Ende der Siebzigerjahre. Der Knackpunkt ist aber: Die ambulante Versorgung wurde immer als ein zusätzliches Angebot zur der im Wesentlichen unveränderten, stationären Psychiatrie gesehen. Dagegen hatte niemand was – außer der Kostenträger. Eine Ambulantisierung, mit der auch ein Abbau der stationären Versorgung einhergeht, setzt sich nur schwer durch, weil sie auf gegenläufige Interessen stößt. Ein Krankenhauskonzern wie die Geno, die sich aus der Belegung stationärer Betten finanziert, gibt das nicht gern her. Zwar wurden im Klinikum Bremen-Ost 20 Betten abgebaut. Die dienten aber der Versorgung suchtkranker Menschen und waren sowieso nicht mehr belegbar. Die Geno bewegt sich eher in Richtung Zentralisierung und Spezialisierung – das ist ein Rückschritt in die Psychiatrie der Siebziger- und Achtzigerjahre.
Scheitert es nur an den finanziellen Interessen des Klinikums Bremen-Ost?
Auch die Fachwelt in der Klinik selbst hat große Schwierigkeiten, umzudenken! Jene, die klinisch arbeiten, stehen meist auf dem Standpunkt, dass sie wirklich wissen, was Leute in schweren psychischen Krisen brauchen. Sie glauben oft, dass jene, die im Lebensumfeld der Menschen diese behandeln wollen, im Grunde genommen naiv sind. In einer Institution wird institutionell gedacht.
Sie sagen: Mindestens zwei Drittel der psychiatrischen Versorgung, die jetzt stationär passiert, könnte ambulant besser sein?
Ein Drittel der Krisenbetten sollen nach unseren Vorstellungen als solche erhalten bleiben – mit dem Ziel, dass es noch weniger werden.
Heiko Schwarting: Ich bin bis 2004 häufig im Klinikum Bremen-Ost und anderen Kliniken gewesen. Und ich bin felsenfest der Überzeugung: Wenn es früher eine ganzheitliche und sozialraumorientierte Behandlung hier im Quartier gegeben hätte, eine Behandlung aus einem Guss – dann wären mir sehr viele Aufenthalte in der Klinik erspart geblieben. Ohne diesen Ansatz ist eine Behandlung langfristig gesehen oft zum Scheitern verurteilt.
Sie fordern nun ein „Krisenhaus“ als ersten Schritt zu einem „Zentrum für seelische Gesundheit“. Was muss man sich darunter vorstellen?
73, ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Mitinitiator und Vorstandsvorsitzender des Vereins Blaue Karawane e.V.
Klaus Pramann: Wir wollen erreichen, dass im Bremer Westen ein Ort geschaffen wird, der Menschen die Möglichkeit bietet, in akuten psychischen Krisen behandelt und begleitet werden zu können, ohne dafür in die Klinik eingewiesen werden zu müssen. Zu so einem Zentrum gehört ein Krisenhaus mit einer kleinen Anzahl stationärer Betten, aber auch ein lebensumfeldnaher Kriseninterventionsdienst und eine Akut-Tagesklinik. Es wäre eine niedrigschwellige und flexible Lösung, bei der man nicht erst formell eingewiesen werden müsste wie bei einer Klinik.
Heiko Schwarting: Auch Leute, bei denen sich abzeichnet, dass sie vielleicht in eine Krise kommen, würden dort aufgenommen – selbst wenn sie keine Versicherungskarte haben, Obdachlose und Migranten etwa.
60, ist Genesungsbegleiter sowie Sprecher des NutzerInnen-Beirates und Aufsichtsratsmitglied der Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V.
Klaus Pramann: Die Zahl der Zwangseinweisungen wird dann deutlich zurück gehen.
Nun gab es bis vor kurzem das „Rückzugshaus“ für Menschen in psychischen Notlagen – das war ja ambulant und niedrigschwellig: Woran ist das gescheitert?
Vor allem am Kostendruck. Die Krankenkassen wollten ein billigeres Konzept. Zuletzt war nur noch die AOK an der Finanzierung beteiligt, bis dann das endgültige Aus durch Corona kam.
Was spricht dann dafür, dass die Kassen ein Zentrum für seelische Gesundheit zahlen?
Es ist etwas ganz anderes – auch das Rückzugshaus war ja nur eine Ergänzung zur unveränderten stationären Psychiatrie in Bremen-Ost. Dadurch wurden keine Klinikbetten abgebaut. Hinter unserem Konzept steht eine ganz andere Haltung, eine nicht-institutionalisierte Herangehensweise. Wir setzen auf offenen Dialog und wollen die Menschen vor Ort abholen.
Und wie soll das finanziert werden?
Bis jetzt werden die Einzelkontakte und das belegte Bett pro Tag bezahlt. Unser Ansatz geht aber davon aus, dass ein Budget für die gesamte Versorgung einer Region zur Verfügung steht.
Braucht es für Ihr Modell nicht viel mehr Personal?
Nein. Es kommt mit genauso vielen Leuten aus wie das bisherige Konzept.
Viele wenden aber ein, dass man schwere Krankheitsbilder nicht ambulant behandeln kann.
Das stimmt aber nicht! Das Leben auf einer Station schafft eine ganz eigene Dynamik. Das ist ein Riesenunterschied zu einer Versorgung im gewohnten sozialen Umfeld, die selbst bei schweren Krankheitsbildern zu deutlich geringeren Krankheitsdynamiken führt. Schon alleine dass es ein Krisenhaus gibt, verhindert oft den Gang in eine Klinik, wie sich etwa in Berlin zeigt. Und wer will schon in eine Klinik, wo man in der Regel an Diagnosen, Medikamenten und Symptomverminderungen orientiert ist? Unser Konzept ist keine Träumerei, sondern im Wesentlichen die Zusammenfassung der Erfahrungen, die andernorts gemacht wurden. Und unser Zielpublikum sind nicht jene mit einer leichten Depression, sondern die, die schwere, akute oder chronische psychische Erkrankungen und komplexe Krankheitsverläufe haben. Die institutionelle Psychiatrie bringt ein Menschenbild mit sich, das selbst krank ist.
Heiko Schwarting: Viele wollen nicht mehr nach Bremen-Ost, weil sie den Eindruck haben, dass die Klinik ihnen schadet und nicht gut tut.
Haben Sie keine Angst, dass die NachbarInnen im Quartier Ihr Zentrum für seelische Gesundheit ablehnen?
Nein! Das gleiche Argument hatten wir auch schon bei der Auflösung der Anstalt im Kloster Blankenburg. Inzwischen haben wir seit langem gerade im Bremer Westen eine recht gute Akzeptanz.