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Buch über Corona-StrategieSchwedens einsamer Weg

Eine schwedischer Journalist versucht in seinem Buch die Coronastrategie des Landes zu erklären und eine Bilanz zu ziehen.

Menschen vor einem Restaurant: Schweden im März 2020 Foto: reuters

Stockholm taz | Schweden sei doch ein Land gewesen, das, gleich ob Cholera, Pocken oder Aids, eine „eisenharte Linie bei der Infektionsbekämpfung“ hatte, wunderte sich Peter Baldwin, Historiker an der University of California kürzlich in einem schwedischen Zeitungsinterview: Warum habe das Land dann bei Corona „alles vergessen, was es aus der Geschichte gelernt hat?“ Und einen Weg gewählt, den der Verfasser von „Fighting the first wave“ für grundfalsch hält.

Vielleicht genau wegen der Erfahrungen mit „eisenharter“ Infektionsbekämpfung, lautet die These eines Sachbuchs des Journalisten Johan Anderberg über den „Weg, den Schweden in der Pandemie wählte“.

Der Umgang mit Aids, bei der man HIV-Infizierte wie Aussätzige behandelte, gilt mittlerweile als eines der dunkelsten Kapitel der Sozialpolitik des Landes. Und 2009 richtete die Panik um die für Menschen relativ harmlose Schweinegrippe aufgrund der Narkolepsie-Nebenwirkungen einer Massenimpfkampagne in Schweden mehr gesundheitliche Schäden an als das Virus.

Virologen und Epidemiologen mit dieser Erfahrung standen 2020 bei der staatlichen Gesundheitsbehörde dann vor der Aufgabe, eine Coronastrategie zu entwickeln. Laut Anderberg, der viele Interviews führte und umfangreich Dokumente auswertete, hätten sie sich schnell für das Modell entschieden, über das vor Corona breite Einigkeit in der epidemiologischen Wissenschaft bestanden habe: Der Infektion mit gezielten Maßnahmen zu begegnen, „von denen man auch wissen muss, dass sie funktionieren“. Nicht die Methode „Viel hilft viel“, sondern Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und der persönlichen Freiheit nur als Ultima Ratio.

Womit Schweden dann bald ziemlich alleine stand. Denn nahezu überall sei die Politik von einer Panik erfasst worden, deren Fundament „eine Mischung aus chinesischer Diktatur und einer schlampigen britischen Studie war“. Womit Anderberg den Rapport des „Imperial College“ meint, der im März 2020 für Großbritannien über eine halbe Million Coronatote binnen 3 Monaten vorhergesagt hatte.

Bunker- und Herdenmentalität

Unstreitig sei das Virus „enorm gefährlich, speziell für bestimmte Menschen“, betont Anderberg. Er verstehe Politiker, die im Frühjahr 2020 panisch reagierten: „Aber warum wurde die Lockdown-Politik dann nicht mehr hinterfragt?“ Seine Vermutung unter Bezug auf die sozialwissenschaftliche Diffusionstheorie: „Politiker schlittern oftmals in etwas hinein, nur um Handlungskraft zu beweisen.“ Dabei würden oft Strategien, die sich am lautesten Gehör verschafften, einfach ohne weitere Analyse übernommen. Vor allem, wenn Entscheidungen unter großer Unsicherheit getroffen werden müssten. Aufgrund einer „Bunker-“ und einer „Herdenmentalität“ bestehe die Gefahr, dass dieser Kurs nicht mehr hinterfragt werde.

Schweden sei von der „Herde“ – so auch der Titel seines Buchs – nur deswegen relativ wenig angesteckt worden, weil hier der gesetzliche Auftrag der Gesundheitsbehörde sowieso ein ganzheitlicher und nicht auf bloßen Gesundheitsschutz ausgerichteter sei und sich Stockholm auf die eigenen Experten verlassen habe. Fehleinschätzungen habe es natürlich gegeben. Aber die Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheit sei Schweden bislang recht gut gelungen. Komme die Zeit für eine Bilanz, könne das Land vielleicht eine ähnliche Rolle wie die „Kontrollgruppe“ bei Arzneimitteltests spielen: Also einen Hinweis liefern, ob man einer solchen Pandemie auch vorwiegend mit gezielten Empfehlungen begegnen und auf die Akzeptanz in der Bevölkerung statt auf einen erzwungenen Lockdown setzen könne.

Schwedens Zwischenbilanz sei gar nicht schlecht, konstatiert Anderberg: Die Übersterblichkeit liegt im europäischen Vergleich im unteren Drittel, die wirtschaftliche Entwicklung war 2020 mit einem BNP-Minus von 3,1 Prozent die drittbeste in der EU und für die meisten Schweden sei „2020 wie 2019 gewesen“.

Das Buch löste in Schweden ein breites Echo aus. Svenska Dagbladet lobt den Verfasser, dieses „heiße Eisen aufzugreifen“. Aftonbladet spricht von einem „nuancierten Bericht über eine merkwürdige Zeit“ und Expressen von einer „Pionierarbeit“. Eine TV-Serie auf Grundlage des Buchs und eine englische Übersetzung unter dem Titel „The Herd“ sind in Arbeit.

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4 Kommentare

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  • Die zitierte "schlampige britische Studie" des Imperial College kenne ich nicht, aber angesichts des Kenntnisstandes vom März 2020 scheint mir die Prognose von über 500.00 Coronatoten im UK erstaunlich präzise (und tendenziell eher zu niedrig). Kleine Überschlagsrechnung: Die Zahl dürfte sich auf ein "Durchlaufen" der Pandemie durch die Bevölkerung beziehen, bei der mindestens 2/3 (Herdenimmunität) infiziert werden. Stand heute sind rd. 4,45 Mio Coronafälle registriert, bei einem Dunkelziffer-Faktor von etwa 3 sind das rund 20% der britischen Bevölkerung. Hochgerechnet auf 65% "Durchinfektion" kommt man auf rd. 420.000 Tote. Allerdings in einem wesentlich größeren Zeitraum, weshalb die Krankenhäuser nicht überlastet wurden und die Medizin Erfahrungen mit dem neuen Virus machen konnte. Auch der Schutz vulnerabler Gruppen wäre bei einer kurzen, großen Welle kaum möglich gewesen. Die Sterblichkeit wäre also wohl um ein mehrfaches höher ausgefallen als in meiner Hochrechnung auf Basis der tatsächlichen Entwicklung mit harten Lockdown-Maßnahmen.



    Gleichwohl wäre eine nüchterne Analyse der unterschiedlichen Strategien und ihrer Auswirkungen sehr zu begrüßen. Wie ist es in Schweden z.B. gelungen, die Fallsterblichkeit in der zweiten Welle weniger als halb so hoch zu halten wie in Deutschland?

  • Bezogen auf die Einwohnerzahl sind in Schweden[1] fast 50% mehr Menschen gestorben als in Deutschland[2].

    Das bedeutet in Schweden 4000 zusätzliche Tote — mehr als ein World Trade Center.

    Hätte Deutschland eine Corona-Todesrate wie Schweden, wären bei uns über 30.000 Menschen zusätzlich gestorben.

    Soviel zu erfolgreichen Strategien. Kann man feiern. Muss man aber nicht.

    [1]: www.corona-in-zahl...weltweit/schweden/



    [2]: www.corona-in-zahl...tweit/deutschland/

  • Na ja, dass der "schwedische Weg" nicht unbedingt der bessere sein würde, konnte man schon lange erahnen. Besonders die Sicherung der Altenheime ist fatal gescheitert. Und auch die anfängliche Selbstdisziplin ist nie wirklich umfassend und nachhaltig gewesen.

    Trotz alledem ist die momentane Bilanz nicht so viel schlechter, als dass sie die Vehemenz der Kritik besonders in der deutschen Presse rechtfertigen würde. Die Sterbezahlen sind tatsächlich in vielen europäischen Ländern mit harten, strikten Maßnahmen schlechter. Selbst Sachsen, Thüringen, Brandenburg stehen im Vergleich mit Schweden schlechter da. Bayern nicht viel besser.

    Es gibt eben doch mehr Faktoren als Lockdown oder nicht, die den Verlauf und die Zahlen der Pandemie beeinflussen. Und bei all den Fehlern, die auch bei uns gemacht wurden und den möglichen Folgen die erst Monate später wirklich einzuschätzen sind, wäre es ab und zu besser, nicht so schnell und selbstgerecht Urteile über die Pandemiepolitik anderer Länder zu fällen.

  • Berücksichtigen sie auch, dass der "laissez-faire"-Ansatz besonders auf Kosten der vulnerableren Gruppen geht?

    Die Empfehlung "machen Sie doch home office" ist dann besonders schick, wenn Sie ein Häuschen mit Vorgarten in der Vorstadt besitzen...

    ...und sich vom Deliveroo-Kurier beliefern lassen (oder der sub-sub-unternehmerischen Amazon-Fahrerin [1]). Und sich im Ernstfall von der Krankenpflegerin intubieren lassen, die mit den Öffis eine Stunde hin- eine zurückpendelt, weil sie sich die Miete nahe dem Krankenhaus nicht im Traum leisten kann.

    Wie war nochmal das Verhältnis der COVID-19-Inzidenz in GB in Korrelation zur Hautfarbe?

    Ich finde, die Diskussion ob Lockdown oder Empfehlung sehr wichtig. Persönlich bin ich ein grosser Anhänger von "Empfehlung". Wenn dieser Aspekt aber nicht berücksichtigt wird [2], dann ist's lediglich eine neoliberale, zynische Schweinerei.

    [1] Die sich alle seltsamerweise nicht an die Empfehlung mit dem Home-Office halten. Muss 'ne Kultursache sein. [...]

    [2] Wenn also die Antwort auf "ich bleib' zuhause" "Sie sind gefeuert!" sein kann; oder wenn nicht mal das ist, weil: keine Arbeit -> kein Verdienst, dann ist die Empfehlung "Seien Sie vernünftig" gleichbedeutend mit "Springen Sie doch von der Klippe!", Freiheit vom Feinsten.

    Kommentar gekürzt. Bitte verzichten Sie auf Pauschalisierungen. Danke, die Moderation/dg