Buch über Autonomie und Allmende: Freiheit für ein neues Wir
Autonomie ist kein Wert an sich, behauptet der Philosoph Jan Skudlarek. Er fordert eine Vermittlung zwischen Ich und Gesellschaft.
Was lehrt ein Supermarktbesuch über Freiheit? Etwas ganz Profundes, ist der Berliner Philosoph Jan Skudlarek überzeugt. Dabei denkt er nicht an die freie Entscheidung zwischen Fairtrade-Kaffee und Industriekoffein. Auch die zweifelhafte Freiheit der Kassiererin bei der Wahl ihres Jobs ist nicht sein Thema. Nein, Skudlarek nimmt etwas anderes in den Blick: Die Kette am Einkaufswagen, das „dünne zivilisatorische Band“, das uns Menschen miteinander verbinde.
Diese Metapher bildet das Herzstück seines neuen Buches „Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht“, eine „Streitschrift für ein neues Wir“. Um zu verstehen, worauf der Autor mit der Einkaufswagenkette hinauswill, sei zunächst geklärt, wogegen Skudlarek sich mit seiner Schrift für ein „neues Wir“ eigentlich wendet. Was stimmt nicht mit dem alten Wir?
In unseren Debatten – sei es über Klimakleber, Duschtemperaturen oder Tempolimits – drohe sich eine Begriffsverengung der Freiheit zu zementieren: Sie würde der Autonomie des Einzelnen gleichgesetzt, der unbehelligt von gesellschaftlicher Verantwortung einer selbstzentrierten Nutzenmaximierung fröne.
„Autonomistisch“ nennt Skudlarek diese Attitüde, die er etwa in FDP-Senior Wolfgang Kubicki verkörpert sieht. Dessen Abwehrhaltung gegen Corona-Maßnahmen und Steuererhöhung sei symptomatisch für den „Porschefahrer-Liberalismus“ unserer Tage – dem verkümmerten Rest eines „einstig stolzen Liberalismus“, der sich edelmütig gegen den Absolutismus wandte.
Der „angepinselte“ Egoismus
Jan Skudlarek: „Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht: Streitschrift für ein neues Wir“. Tropen Verlag, Berlin 2023, 240 Seiten, 22 Euro
Über die Schattenseiten des „stolzen“ Liberalismus von einst ließe sich mehr sagen, aber mit Blick auf die Gegenwart hält Skudlarek treffend fest, dass politisch skandierte Freiheit oftmals nur ein „angepinselter“ Egoismus ist. Doch worin besteht die wahre Freiheit, die ein „neues Wir“ ermöglicht? Zurück zum Einkaufswagen: Die Kette, die unsere Shoppingvehikel verbindet, symbolisiert die Einschränkung individueller Entscheidungsgewalt.
Anstatt den Wagen irgendwo zwischen den Regalen zu parken, sind wir angehalten, sie in Reih und Glied neben dem Eingang abzustellen. Die Kette versinnbildlicht zugleich den Nutzen reduzierter Autonomie: Die Wagen stehen auffindbar für jeden, geordnet statt verstreut nach jedermanns Gusto. Die Moral: Wer Autonomie für einen Wert an sich halte, unterliege einer „autonomistischen Illusion“.
Skudlarek plädiert für ein „Allmende-Mindset“: So wie sich im Mittelalter Bewohner eines Ortes Wiesen und Bäche teilten, sollten wir Trinkwasser, Ackerflächen, die Erde als Ganzes begreifen. Verbunden ist damit ein Freiheitsverständnis, das die Bedürfnisse der Gemeinschaft mit einbezieht. Freiheit zur Teilhabe statt Freiheit von äußeren Abhängigkeiten. Das sei ein Freiheitsbegriff, der die soziale Verwurzelung des menschlichen Wesens hinzuziehe, eine Freiheit jenseits individueller Anspruchshaltung.
Blinde Flecken in den Debatten
In klarer Sprache verweist Skudlarek auf blinde Flecken in unseren Debatten um Freiheit und Selbstbestimmung. Hier und da sprenkelt er in Prechtscher Manier Hans Jonas, Sören Kierkegaard und Sartre („Die Hölle, das sind die Inlandsflüge der anderen“) ein, was einem als Einladung zu tieferen Überlegungen an die Hand gereicht wird.
Denn was auch stimmt: Im Vergleich zu verwandten Büchern, wie Eva von Redeckers „Bleibefreiheit“ (Fischer 2023), ist „Wenn jeder an sich denkt“ nicht die intellektuell originellste Schrift zum Thema. Das macht aber auch nichts. Denn die neo-liberalen Feindbilder, gegen die er mit dieser Schrift anstreitet, gilt es in der geistigen Liga zu schlagen, in der sie angetreten sind.
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