Buch „Wie der Punk nach Hannover kam“: Maß und Mitte des Punk
Punk in Deutschland war zu Beginn ein Mittelschichtsphänomen. Ein neues Buch zeigt, wie deshalb Hannover zu einer Metropole des Punk werden konnte.
Um das Resümee gleich vorwegzunehmen: Das Foto-Lesebuch „Wie der Punk nach Hannover kam“ erklärt umfassend, warum die ob ihrer vermeintlichen Langweiligkeit vielgeschmähte niedersächsische Landeshauptstadt Ende der 1970er zu einem der Punk-Zentren Deutschlands werden konnte. Ähnlich wie das strukturell vergleichbare Düsseldorf.
Da der Punk in Deutschland zumindest zu Beginn vor allem ein Mittelschichtsphänomen war, brauchte er logischerweise vor allem eins: Die Mitte. In jeder Hinsicht. Erstens musste das Leben in der Stadt mittelmäßig langweilig sein. So langweilig, dass es nervte, schmerzte und man etwas an der Situation verändern wollte, aber nicht so öde, dass man schon kapituliert und sich dem Elend gefügt hatte.
Zweitens durfte die Stadt nicht zu klein sein. Sie musste mindestens eine mittlere Größe haben. Groß genug, damit sich konkurrierende Szenen bilden konnten und auch eine Binnendifferenzierung innerhalb des Punks möglich war: Politpunks, intellektuelle Kunstpunks, Gossenpunks…
Es musste genügend Möglichkeiten, Lücken und Leerstellen geben, um unterschiedliche Auftrittsorte für Bands etablieren zu können, Festivals zu organisieren, Fanzines und sogar ein Platten-Label zu gründen. Und die Stadt musste immerhin so viel Großstadtflair haben, um auf die verlorenen Seelen des Umlands wie ein Magnet zu wirken, ohne jedoch die Land- und Kleinstadtflüchtlinge wie ein Moloch zu verschlingen.
Als drittes mediokres Punk-Zentrums-Qualifikations-Kriterium musste in der Stadt vorher musikalisch schon was passiert sein. So mittelviel eben. So, dass man es ernst nehmen und man dagegen rebellieren, es verachten konnte: Hannover war, bevor es eine Zeit lang zur Punk-City wurde, eine Kraut- und Hardrockstadt gewesen. Deswegen lautete die zentrale ästhetische Parole des Punkaufstandes: „Ohne Scorpions, Jane und Eloy in die 80er Jahre!“
„Wie der Punk nach Hannover kam“ beschreibt in Text und Bild diesen gitarrensolifreien Aufbruch aus verschiedenen – zumeist streng subjektiven – Perspektiven.
Die drei Herausgeber Hollow Skai, Klaus Abelmann und Detlef Max stammen aus dem journalistischen Umfeld. Begonnen haben sie standesgemäß als Fanzine-Macher. Inzwischen sind sie Buchautoren, Verlagsgeschäftsführer und Pressesprecher.
Wobei Hollow Skai, der bis heute seinen Punk-Namen trägt, eine besondere Rolle in der Hannoverschen Punk-Geschichte einnimmt. Zwischen der Erstellung seines ersten Fanzines in einem der damals noch neuen Copy-Shops und seiner späteren Tätigkeit als Kultur-Redakteur, unter anderem beim Stern, liegen vier, fünf Jahre, in denen er eines der wichtigsten deutschen Punklabels betrieb: „No Fun Records“. Hier erschienen die Tonträger der hannoverschen Bands Hans-A-Plast, Rotzkotz, Der moderne Man, Bärchen und die Milchbubis, Mythen in Tüten, UnterRock, Index Sign und 39 Clocks.
Neben den Herausgebern erzählen im Buch vor allem Musiker*innen dieser Bands ihre persönlichen Hannover-Punk-Storys. Diese Geschichten sind alle unterhaltsam und amüsant zu lesen. Manche sind kondensierte „Coming of age“-Stories, manche eher halbironische para-religiöse Erweckungsgeschichten, die eine oder andere hat auch eine gewisse Omma-erzählt-von-der-Nachkriegszeit-Qualität: Wir hatten ja nix, also haben wir Kartoffeln vom Acker geklaut, uns in Glasscherben gewälzt und Punkrock-Cafés eröffnet.
„Wie der Punk nach Hannover kam“, hg. v. Klaus Abelmann, Detlef Max, Hollow Skai, Berlin, Hirnkost, 256 S., 30 Euro
Buchvorstellung: 27. 5. mit Live-Musik von „Der moderne Man“, „Bärchen und die Milchbubis“ und Annette Benjamin (Hans-A-Plast), Pavillon, Lister Meile 4, Hannover, ab 17 Uhr
Gewürzt werden diese Geschichten mit skurrilen Anekdoten, die vom damals offensichtlich sozial akzeptierten, heute aber doch eher eigenwillig erscheinenden Sozialverhalten der Punk-Protagonisten erzählen. Menschen, die sich drollige Namen gaben wie „Dussel“, „Sperma-Willy“ oder „Votze Flamenco“. Oder Bands, die sich wegen der Weigerung des Gitarristen, aus philosophisch-physikalischen Gründen mehr als einen Ton pro Song zu spielen, auflösen mussten. Jener Gitarrist übrigens – Rudolf Grimm von „Bärchen und die Milchbubies“ – wurde nach seiner Punk-Karriere dann ein renommierter Experimentalphysiker. Er lehrt inzwischen an der Uni Innsbruck.
Am interessantesten ist das Buch, wenn die historischen Darstellungen aktuelle Fragen provozieren. Zum Beispiel die nach der Rolle der Frauen in der Subkultur und im Musikbusiness. Immerhin bestand die wohl erfolgreichste Hannoversche Punkband „Hans-A-Plast“ zu drei Fünfteln aus Frauen.
Noch ungewöhnlicher als dieser Umstand war, dass zwei der Frauen, Renate Baumgart und Bettina Schröder, die Rhythmusgruppe bildeten, also die damals selten von Frauen gespielten Instrumente Bass und Schlagzeug bedienten. „In unseren Songtexten machten wir uns die männliche Sicht auf die Welt zu eigen und führten sie dann ad absurdum“, schreibt Sängerin Annette Benjamin. „Dominantes Gebaren wurde von uns lächerlich gemacht. Früher konnten Männer tun und lassen, was sie wollten. Das wollten wir auch, in jeder Hinsicht. Wir ermächtigten uns selbst.“
Grade weil Punk zu dieser Zeit in Deutschland ansonsten vor allem von Männern gespielt wurde, konnte „Hans-A-Plast“ dialektisch klarstellen, dass Rock’n’Roll kein Herrengedeck sein muss. Unter uns: Schon dafür hat es sich gelohnt, dass der Punk nach Hannover kam.
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