Buch „Spiele der Sprache“: Wittgenstein in Schlafliedern
Martin Seel bringt seiner Leserschaft den österreichischen Philosophen näher. Dafür verortet er Wittgensteins Untersuchungen in der Alltagssprache.
Nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit soll Ludwig Wittgenstein den Prüfern mitleidig auf die Schulter geklopft haben. „Nehmen Sie es nicht so schwer. Ich weiß, dass Sie es wohl nie verstehen werden“, sagte er angeblich zu niemand Geringerem als dem späteren Nobelpreisträger Bertrand Russell.
Die Anekdote erfreut sich großer Beliebtheit bei all jenen, die sich in einem Werk zu orientieren versuchen, das zu den einflussreichsten, aber auch anspruchsvollsten des 20. Jahrhunderts zählt. Nicht nur ihnen sei Martin Seels „Spiele der Sprache“ wärmstens empfohlen.
Denn dem emeritierten Philosophieprofessor gelingt etwas Hocherfreuliches. Er bringt Wittgenstein seiner Leserschaft nahe, aber nicht dadurch, dass er sein Publikum über Vereinfachungen heranführt.
Seel verortet Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ vielmehr, ganz in dessen Sinne, in der Alltagssprache, in Sätzen, die ein jeder kennt, der sprechen, hören oder lesen kann. Er bringt Wittgenstein mithin dorthin, wo sein Werk am besten aufgehoben ist: im Gebrauch von Sprache. Alltagskommunikation, Schlaflieder, Gedichte und ihre Übersetzungen dienen dem Autor als Anlässe, Wittgensteins Theorie zu erklären und gegen ihre Kritiker zu verteidigen.
Keine Werkeinführung, vielmehr eine Streitschrift
Was als didaktische Methode beste Dienste leistet, ist dabei zugleich eine argumentative Strategie, denn sein Buch ist keine Werkeinführung, vielmehr eine Streitschrift. Seel will mit Wittgenstein einen ewigen Konflikt in der Sprachphilosophie auflösen. Zu Beginn ordnet er die Kontrahenten in diesem Disput an: Von Platon über Augustinus, Herder und Heidegger bis zu Adorno und Habermas tritt ein jeder auf, dem die Sprache in seiner Philosophie wichtig genug war, um Anspruch auf ein Wissen über ihre reine Verfasstheit zu erheben.
Die Konfliktlinien verlaufen an Fragen wie diesen: Entstand die Sprache im Prozess einer Nachahmung der Natur, oder waren die Wörter von Anfang an völlig willkürlich gewählt? Was ist primär: die Regelhaftigkeit oder deren Missachtung im Verlauf des Sprechens?
Ist der gerade Aussagesatz die Standardform oder muss diese auch die figürliche Rede einbeziehen? Das klingt reichlich akademisch und ist es natürlich auch. Seels Buch besteht zu großen Teilen aus der Kommentierung eines nur wenige Zeilen langen Paragrafen aus Wittgensteins zweitem Hauptwerk. Zum Ende hin ergibt sich eine durchaus praxisnahe, sogar politische Wendung.
Der Autor plädiert für eine „demokratische“ Theorie, die Sprache nicht in eigentliche und uneigentliche Gebrauchsweisen einteilt. Sie sei vielmehr nur in ihrer Fülle und fortwährenden Varianz zu fassen. So ist auch der Titel des Buchs zu verstehen, der auf Wittgensteins „Sprachspiele“ referiert.
Der Begriff betont, dass ein Satz völlig andere Bedeutungen haben kann, abhängig zum Beispiel von der sozialen Situation, in der er fällt, von der Betonung oder auch von seiner Stellung in einem Textgefüge. Eine Äußerung befindet sich also immer im Spiel, sie ist nicht auf einen einzigen Sinn festgelegt. Seel seinerseits betont darüber hinaus eine weitere Bedeutung des Konzepts Spiel, das für ihn eng verbunden ist mit Freiheit und Unabhängigkeit.
Implizit erteilt er all den Kritikern eine Absage, die gegen Jugendsprache, Anglizismen oder das Gendern und für eine korrekte oder reine Sprache streiten. Regeln sind für ihn nicht als Dogmen zu verstehen, sondern als Orientierungen und eben auch als Hindernisse, die es mitunter zu überwinden gilt. Sein Buch ist vor allem eine Aufforderung, Sprache nicht auf eine ihrer Funktionen zu reduzieren, sondern sie im Modus der Neugier, der Offenheit und der Freude zu erkunden und zu aktualisieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch